Als sich mein 90-jähriger Lieblingsonkel vor wenigen Monaten abrupt in die Ewigkeit verabschiedete, war das angesichts seines Alters für mich nicht unerwartet, aber dennoch überraschend. Schließlich hatte er noch vierzehn Tage zuvor sein jahrzehntelang betriebenes Schwimmtraining im Hallenbad absolviert, und das bei offensichtlichem Wohlbefinden. Und Onkelchen war da keine Ausnahme.

Eine unserer ältesten Patientinnen der Praxis war bis vor einem Jahr täglich mit dem Fahrrad unterwegs, bis sie plötzlich wegen einer kardialen Synkope bei großer Sommerhitze ohnmächtig vom Drahtesel fiel. Jetzt wird ihr Herz elektronisch gestützt und seitdem sehe ich sie mit ihren 94 Jahren Tag für Tag unterwegs in Oettingen, quietschfidel wie immer. Eine andere, fast gleichaltrige Seniorin war lebenslang bei jedem Wetter als Zeitungszustellerin schon frühmorgens mindestens zwei Stunden zu Fuß unterwegs. Niemals habe ich erlebt, dass sie mit dem Auto in die Praxis gebracht worden wäre. Bis zu ihrem versorgungsbedingten Einzug in ein Seniorenheim ist sie auch als Neunzigjährige immer noch mit dem Fahrrad sechs Kilometer von ihrem Dorf in die Stadt gekommen, mitunter mehrfach täglich, auch mit vollen Einkaufstüten und natürlich hin und zurück. Neunzig scheint das neue siebzig zu sein, auch bei Normalverbrauchern. Wettbewerbsorientierte Sportseniorenlegen da gerne noch mal eine Scheibe auf.

Ein Blick in die letzten Ergebnislisten der Deutschen Leichtathletik-Seniorenmeisterschaften lässt auch Jüngere alt erscheinen. Beim 100-Meter-Finalsprint der 80-Jährigen lieferte der Gewinner eine Zeit ab, die ich als Abiturient nur knapp überboten hätte. Und der olympische Gedanke des "citius, altius, fortius" treibt noch tollere Blüten. Die nach 70 Jahren Ehe verwitwete, pensionierte Lehrerin Julia Hawkins, genannt "Hurricane", durchbrauste die 100 Meter Distanz im November 2021 bei den US-amerikanischen Senior Games zwar "nur" in 1:02:95 min, war damals aber schon über 105 Jahre alt. Natürlich darf man diese Zeit nicht an dem noch gültigen Frauenweltrekord von 1988 messen. Ihn hatte seinerzeit Florence Griffith-Joyner aufgestellt, die mit ihrem atemberaubenden Laufstil, ewig langen Fingernägeln und knalleng-grellen Outfits die Blicke auf sich zog. Die 10,49 Sekunden der damals 29-Jährigen scheinen zwar für die Ewigkeit gemacht, aber "Hurricane" war bei ihrem Rekord immerhin fast dreieinhalbmal so alt. Einer Pressemeldung zufolge ist Julia Hawkins noch nicht am Ende: "I wanted to do it in less than a minute …The older you get, the more passions you ought to have." Leidenschaft heißt also ihr Doping. Na denn: je oller, desto doller!


Das meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (2) Seite 62