Bei seltenen Erkrankungen führt meist erst ein Blick auf die Kombination mehrerer Symptome zur richtigen Diagnose. Hier drei kurze Kasuistiken zu drei seltenen Erkrankungen, vorgestellt von Dr. Christina Lampe und Dr. Christian Lampe vom Zentrum für seltene Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen am Universitätsklinikum Gießen.

KASUISTIK 1: Mädchen mit auffälligem Gangbild, schneller Ermüdbarkeit und Muskelschmerzen

Ein Mädchen mit zwölf Jahren stellt sich mit einem etwas watschelnden Gang und schneller körperlicher Ermüdbarkeit vor. Zudem leidet die Patientin häufiger an Muskelkrämpfen und Muskelschmerzen. Sie nimmt nur ungern am Schulsport teil, da sie nicht gut mit ihren Mitschülerinnen mithalten kann. Rennen fällt ihr schwer, sie stolpert über ihre eigenen Füße. Sonst ist sie gut in der Schule.

Die Mutter berichtet über eine termingerechte Geburt nach unauffälliger Schwangerschaft mit normalen Geburtsmaßen und normalem Geburtsgewicht. Das Mädchen habe recht spät laufen gelernt, ansonsten sei ihre motorische Entwicklung unauffällig gewesen.

Die Mutter erzählt, dass sie wegen des Gangbildes bereits einen Orthopäden aufgesucht habe. Die Symptomatik habe sich langsam entwickelt und sei nun doch belastend. Sie könne nicht mehr mit wandern gehen, das Treppensteigen zu der im 5. Stock gelegenen Wohnung fiele ihr schwer. In einer Röntgenuntersuchung der Hüften wurde eine leichte Hüftdysplasie beidseits festgestellt und Physiotherapie verordnet. Aus der Anamnese ergeben sich keine weiteren Auffälligkeiten.

Bei der ausführlichen körperlichen Untersuchung fällt bis auf etwas schwache Muskeleigenreflexe und einen sehr schlanken Habitus nichts auf. Herz und Lunge zeigen keine pathologischen Befunde.Der Arzt kann die Symptome nicht wirklich zuordnen und veranlasst zunächst eine ausführliche allgemeine Labordiagnostik. Alle Befunde – bis auf eine erhöhte Kreatinkinase (CK) – sind unauffällig.

Diagnose: Morbus Pompe

Der Kinderarzt ist nicht auf Muskelerkrankungen spezialisiert, hat aber in einem Webinar etwas über behandelbare Muskelerkrankungen gehört und Trockenbluttestkarten auf Morbus Pompe, eine Glykogenose, in seinem Regal. Er testet das Mädchen und erhält die Diagnose der autosomal-rezessiven lysosomalen Speichererkrankung M. Pompe.

Der M. Pompe hat zwei Verlaufsformen: die Infantile Onset Pompe Disease (IOPD), eine im frühen Säuglingsalter beginnende, rasch progrediente Form mit schwerer hypertropher Kardiomyopathie, die unbehandelt im ersten Lebensjahr zum Tod führt, und eine Late Onset Pompe Disease (LOPD). Diese Form manifestiert sich nach dem ersten Lebensjahr und verläuft vorrangig als progrediente proximale Myopathie mit oft früher Zwerchfellbeteiligung und restriktiver Ventilationsstörung.

Da das Mädchen keine Herzbeteiligung hat und nach dem ersten Lebensjahr Symptome entwickelt hat, handelt es sich um eine Late-Onset-Form des M. Pompe.

Es ist eine Enzymersatztherapie verfügbar, die alle zwei Wochen intravenös verabreicht wird. Da es sich um eine chronisch progrediente Erkrankung handelt, die neben einer progredienten globalen Muskelatrophie eine schwere und zunehmende Lungenbeteiligung infolge der Beteiligung der Atemmuskulatur verursacht, sind eine frühzeitige Diagnosestellung und ein sofortiger Therapiebeginn essenziell. Die Patient:innen sollten an ein Spezialzentrum angebunden werden, um die Therapie beginnen zu können und regelmäßige Verlaufsuntersuchungen vorzunehmen.

KASUISTIK 2: Junge mit rezidivierenden Infekten, Hörstörung, Entwicklungsverzögerung und auffälligem Aussehen

Ein zweijähriger Junge wird von seiner Mutter mit einem schweren Infekt der oberen Atemwege vorgestellt. Das Kind ist nun schon zum dritten Mal in diesem Winter mit einem schweren Infekt in der Praxis.

Die Mutter berichtet, dass sie das Gefühl habe, er höre schlecht und er spreche recht undeutlich. Ständig habe er Infekte. Es wirke, als habe er eine Immunschwäche. Der Arzt kennt das Kind schon seit Geburt und erinnert sich, dass es von Anfang an an schweren Infekten der Atemwege oder der Ohren litt. Er erinnert sich zudem, dass der Junge auch eine motorische Entwicklungsverzögerung hatte: Alle Meilensteine der Entwicklung wurden später als gewöhnlich erreicht. Da der Arzt auch die Eltern und die drei Geschwister des Kindes kennt, fällt ihm auf, dass der Junge ganz anders aussieht als seine Familienmitglieder. Er kombiniert die Symptome: rezidivierende Infekte, Hörstörung, Entwicklungsverzögerung und anderes Aussehen.

Diagnose: Alpha-Mannosidose

Eine Pharmavertreterin hatte ihm kürzlich eine Information über Mukopolysaccharidosen, eine Gruppe lysosomaler Speicherkrankheiten, vorbeigebracht und Trockenbluttests zur Diagnostik für einige behandelbare Formen überreicht. Er testet also auf diese Mukopolysaccharidosen. Das Ergebnis ist negativ.

In der Informationsbroschüre wird als Differenzialdiagnose die Alpha-Mannosidose genannt, eine ebenfalls behandelbare lysosomale Speichererkrankung. Nach Rücksprache mit einem Stoffwechsellabor testet er die Enzymaktivität der Alpha-Mannosidase und stellt durch die erniedrigte Enzymaktivität die Diagnose. Eine genetische Untersuchung bestätigt das Ergebnis. Er schickt den Patienten in ein Spezialzentrum, wo nach gründlicher Untersuchung aller Organsysteme eine Enzymersatztherapie begonnen wird – einmal wöchentlich intravenös.

Die Alpha-Mannosidose ist eine chronisch progrediente Erkrankung mit und ohne geistige Beteiligung. Zu den oben genannten Kardinalsymptomen zeigen die Patient:innen Skelettveränderungen, die Dysostosis multiplex genannt werden. Im Verlauf können sich eine Ataxie und psychiatrische Symptome entwickeln.

Die Alpha-Mannosidose hat drei verschiedene Verlaufsformen: Typ 1, eine milde Form mit juvenilem Beginn, langsamer Progredienz und Überleben bis in das Erwachsenenalter. Typ 2, eine moderate Form, ebenfalls mit juvenilem Beginn und Überleben bis in das Erwachsenenalter. Typ 3, eine schwere Form mit frühkindlichem Beginn, schwerer ZNS-Beteiligung und einem frühen Tod.

KASUISTIK 3: Junge mit Entwicklungsverzögerung, Ausfall der Muskeleigenreflexe und Kraftverlust in den Beinen

Eine Mutter kommt mit ihrem vier Monate alten Jungen in die Praxis zur U4. Sie macht sich Sorgen, da sich das Kind im Vergleich zu ihren anderen zwei Kindern langsamer entwickelt. Schwangerschaft und Geburt seien normal verlaufen, berichtet die Mutter. Der Junge bewege sich sehr wenig, wirke sehr schlapp und könne seinen Kopf noch nicht halten. Zudem atme er zunehmend schwerer und verschlucke sich oft. Allerdings lächle das Kind viel und lautiere viel.

Bei der Untersuchung fällt dem Kinderarzt neben dem Ausfall der Muskeleigenreflexe ein Kraftverlust an den Beinen auf. Insgesamt erscheint das Kind muskulär hypoton. Zudem fallen Fibrillationen an der Zunge auf. Die sonstige körperliche Untersuchung ergibt keine weiteren pathologischen Befunde. Die Laborbefunde sind bis auf eine minimal erhöhte Kreatinkinase (CK) unauffällig.

Der Arzt überweist das Kind mit der Diagnose "floppy infant" an einen Neuropädiater. Dieser führt elektrophysiologische Untersuchungen durch, welche auf eine Vorderhornzellenerkrankung hinweisen. Da der Neuropädiater von einer neuen Gentherapie bei spinaler Muskelatrophie (SMA) in den Medien gehört hat, veranlasst er eine sofortige Diagnostik mittels eines kostenlosen Trockenbluttests. Die Ursache der SMA ist ein Gendefekt, bei dem das Survival-of-Motor-Neuron-Gen (SMN1-Gen) fehlt oder eine Mutation aufweist. Um die Schwere der Erkrankung bzw. den Typ der SMA festzulegen, wird zusätzlich die Kopienzahl des SMA-2-Gens bestimmt. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt.

Diagnose: SMA Typ 1

Nach Erhalt der Diagnose SMA Typ I steht dem Jungen (unter bestimmten Voraussetzungen) eine einmalige intravenöse Gentherapie in einem spezialisierten Zentrum zur Verfügung. Auch ein anderer Therapieansatz mittels eines Wirkstoffes, der die Art, wie die prä-mRNA von SMN2 gespleißt wird, verändert, sodass vollständiges und funktionsfähiges SMN-Protein produziert werden kann, ist eine Option. Das Medikament wird intrathekal über eine Lumbalpunktion direkt in den Liquorraum injiziert. Die Anwendung beinhaltet eine Aufsättigung in einem Zeitraum von etwa zwei Monaten, zudem eine Erhaltungstherapie mit Injektionen alle vier Monate. Als dritte Alternative wurde vor Kurzem eine oral einzunehmende Substanz für die Therapie zugelassen, die ebenfalls eine Zunahme der Produktion von funktionsfähigem SMN-Protein bewirkt.

Wichtig für die Sprechstunde
  • M. Pompe hat 2 Verlaufsformen: eine im Säuglingsalter beginnende und eine Late-onset-Form.
  • Die Alpha-Mannosidose ist eine chronisch progrediente Erkrankung mit und ohne geistige Beteiligung.
  • Die spinale Muskelatrophie (SMA) Typ I ist eine Vorderhornzellenerkrankung, die autosomal-rezessiv vererbt wird.



Autoren

© Kirchheim-Verlag
Dr. med. Christina Lampe


© Kirchheim-Verlag
Dr. Christian Lampe

Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
Abteilung für Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie
Justus-Liebig-Universität Gießen
35392 Gießen
Interessenkonflikte: Die Autor:innen haben keine deklariert

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 18-20