Hypoglykämien bei Patient:innen mit Diabetes können unterschiedliche Ursachen haben, z. B. zu hohe Dosen von Antidiabetika oder Insulin, Sport oder das Auslassen einer Mahlzeit. Dabei reagiert das Gehirn am empfindlichsten auf einen Glukosemangel. Neben Akutfolgen wie Konzentrationsstörungen, Aggression oder Benommenheit drohen bei schweren, wiederholten Hypos auch Spätfolgen wie Depression oder Demenz.

Eine Hypoglykämie ist ein Zustand, bei dem der Blutzucker unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) abfällt und spezifische Symptome einer Unterzuckerung auftreten, die unter Glukosegabe wieder verschwinden (Tabelle 1).

Die Grenze von 70 mg/dl (3,9 mmol/l) wird gewählt, weil unterhalb dieser Schwelle im Gehirn autoprotektive Adaptationsvorgänge unter dem Selfish-Prinzip (brain first) beginnen, um die Sicherheit der Energieversorgung des ZNS zu gewährleisten. Die Glukoseaufnahme ins Gehirn wird unter Ausnutzen des vorhandenen Angebots im Blut gesteigert durch eine Vermehrung der Glukosetransporter an der Blut-Hirn-Schranke. Zusätzlich kann durch eine höhere Glukokinase-Aktivität mehr Glukose in die Neuronen einströmen und in den Mitochondrien durch Oxidation (aerobe Glykolyse, Citratzyklus, Atmungskette) zur Energiegewinnung verstoffwechselt werden.

Es geht um die Versorgung des Gehirns mit Glukose

Das Gehirn braucht Glukose als Energielieferanten. Wegen der fehlenden Speichermöglichkeiten ist es zur Erhaltung seiner Funktionen (neuronale Steuerung vital wichtiger Funktionen, emotionale Stabilität, kognitive Leistungsfähigkeit) auf ein dauerhaftes, stetiges und verlässliches Angebot von Glukose aus dem Blut angewiesen. Fällt der Blutzucker als Folge von zu viel exogen appliziertem oder endogen stimuliertem Insulin zu sehr ab, versucht der Organismus, unter allen Umständen durch kompensatorische Freisetzung kontra-insulinärer Hormone (Glukagon, Adrenalin, Glukokortikoide, Somatotropin) eine Euglykämie aufrechtzuerhalten, um damit Gefahren vom Gehirn abzuwenden (Abb. 1).

Hormonell wird die hepatische Glukoneogenese gesteigert und der Glukoseoutput aus der Leber verstärkt. So werden die endogenen, hepatischen Glukosereserven mobilisiert.

Kardiale Gefahren unter sympathikoadrenerger Gegenregulation

Die Stimulation von Adrenalin erhöht die kardiale Gefährdung der Patient:innen durch Rhythmusstörungen, Angina pectoris, Herzinfarkt sowie gesteigerte kardiovaskuläre Mortalität (Kasten 1).

Darüber hinaus kann es zu Heißhungerattacken kommen, die dazu führen sollen, dass der Betroffene durch Aufnahme schnell resorbierbarer Kohlenhydrate neue Glukose hinzufügt. Auch Angst- und Panikattacken können entstehen.

Glukosemangel im Gehirn

Eine Neuroglykopenie (Kasten 1) kann zu einer Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit des Gehirns mit Konzentrationsstörungen, Störung im Lernen und Gedächtnis sowie Kopfschmerzen und Albträumen führen.

Durch die Stimulation der HPA-Achse können Affektstörungen (Affektinkontinenz, aggressive Durchbrüche) entstehen, aber auch schwere depressive Episoden und kognitive Einschränkungen. Dabei kann es insbesondere bei einer genetischen Prädisposition für Depression zur einer neuronalen Dysbalance verschiedener Hirnareale kommen, die sich in unterschiedlich ausgeprägten Symptomen einer Depression äußert: gedrückte depressive Stimmung, Verlust von Freude und Interesse sowie Antriebsminderung und erhöhte Müdigkeit. Eine gravierende Neuroglykopenie kann klinisch durch neurologische Ausfälle mit Koordinationsstörungen, Verwirrtheit, Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit imponieren.

Schwere Hypoglykämien erhöhen das Risiko für eine Demenz signifikant. Bei sehr langer Neuroglykopenie mit Bewusstlosigkeit kann es zu ausgeprägten zerebrodestruktiven Prozessen (HIND = Hypoglycemia Induced Neurologic Deficit, stroke mimics) kommen, die denen durch Hypoxie hervorgerufenen gleichen und tödlich enden können.

Kasten 1: Folgen einer Hypoglykämie
Adrenerge Symptome: Unruhe, Nervosität, Zittern, Kribbeln, Schwäche, Heißhunger, Blässe, Schwitzen, Tachykardie, Angina pectoris, Angst, Panik; Individuelle Symptome

Glukosemangel im Gehirn

Kognitionsstörungen: unflexibles Denken, Unaufmerksamkeit, Konzentrationsschwäche, Störungen im Lernverhalten, Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen, Albträume; Affektstörungen: Affektinkontinenz, Aggression, Depression; Neurologische Ausfälle: Koordinationsstörungen, Schwindel, Torkeln, verwaschene Sprache, Sehstörungen, Benommenheit, Verwirrtheit, epileptische Krampfanfälle, Bewusstlosigkeit, Tod

Spätfolgen schwerer, wiederholter Hypoglykämien: Depression, Demenz

= HIND; Stroke mimics

Hypoglykämie und Angst

Viele Hypoglykämien treten nachts unbemerkt auf und haben erhebliche Auswirkungen auf das körperliche und psychische Wohlbefinden der Betroffenen und deren Arbeitsfähigkeit. Das führt bei den Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen nicht selten zu Angst. Die Angst vor einer Hypoglykämie kann eine effektive Diabetesbehandlung behindern durch negativen Einfluss auf die Therapietreue, Verzögerung oder Vermeidung einer Insulintherapie, Weglassen einer Insulininjektion oder Injektion einer verminderten Insulindosis.

Nächtliche Hypoglykämien verschlechtern das Gedächtnis und oftmals auch die Schlafqualität.

Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung

Rezidivierende Hypoglykämien sind der wichtigste Risikofaktor für weitere schwere Unterzuckerungen, oftmals mit einer abgeschwächten hormonellen Gegenregulation (zerebrale Hypoglykämie-Toleranz), und können zu einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung führen. Insbesondere im Alter kann die Hypoglykämie-Wahrnehmung verändert sein. Es kommt zu einer Angleichung der glykämischen Schwellen für autonome und neuroglykopenische Symptome. Dadurch ergibt sich ein verkleinertes Fenster für die Reaktionszeit zur Behandlung der Hypoglykämie. Zum Erkennen einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung sollten spezifische Schulungsprogramme genutzt werden.

Was sind die Gründe für eine Hypoglykämie?

Wichtig ist eine umfangreiche Aufklärung der Patient:innen und ihrer Angehörigen über die vielfältigen Gründe für eine Hypoglykämie (Kasten 2) und die große Breite der Symptomatik. Zudem müssen die Therapeut:innen sensibilisiert werden, was die Bedeutung einer stabilen Diabeteseinstellung angeht, die Unterzuckerungen vermeiden hilft.

Kasten 2: Gründe für die Hypoglykämie
  • Auslassen einer Mahlzeit (Erbrechen, Verweigern nach Insulingabe)
  • Körperliche Bewegung / Wärme
  • Zu hohe Dosis von Antidiabetika (SH, Insulindosis, v.a. postprandiale Korrekturen)
  • Alkohol
  • Endokrine Erkrankungen (z.B. Morbus Addison, Niereninsuffizienz)
  • Psychopharmaka (z.B. Sertralin)

Akuttherapie einer Hypoglykämie

Bei sicherer Diagnose einer Hypoglykämie ist schnelles Handeln geboten: orale Aufnahme schnell resorbierbarer Kohlenhydrate.

Bei einer schweren Hypoglykämie mit bereits eingetretener Bewusstseinstrübung sollte zeitnah z.B. durch einen Angehörigen intranasal Glukagon (Baqsimi®) verabreicht werden. Dieses Nasenpulver enthält 3 mg Glukagon, ist sofort anwendbar und wird in einem Hub in ein Nasenloch eingeführt und dort passiv resorbiert. Es kann auch unter einer Behandlung mit Dekongestiva angewendet werden. Baqsimi® zeigte in Studien eine vergleichbare glukosesteigernde Wirkung wie Glukagon, das intramuskulär verabreicht wurde. Es hilft, die hepatischen Glukosereserven zur Verfügung zu stellen und so schnell eine Euglykämie wiederherzustellen. Deshalb ist nach Beendigung der Neuroglykopenie, wenn der Betroffene wieder wach und im Kopf klar geworden ist, die Zufuhr von Kohlenhydraten wichtig, um die Leberreserven wieder aufzufüllen.

Gegebenenfalls kann auch Glukose intravenös appliziert werden, 40ml 40%ige Glukose (Abb. 2). So können zerebrale Schäden vermieden werden.

Ist bei einer Hypoglykämie immer eine stationäre Krankenhauseinweisung nötig?

In der Regel ist eine ambulante Therapie einer Hypoglykämie ausreichend. Alleine bei schwerer Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit oder unter einer Sulfonylharnstofftherapie sollte eine Glukoseinfusion und gegebenenfalls eine stationäre Behandlung erwogen werden.

Ältere, multimorbide Diabetiker:innen, die hohe Dosen an Insulin spritzen, und diejenigen, die unter Alkoholeinnahme eine Unterzuckerung erlitten haben, sollten nach Wiederherstellung einer Euglykämie ihre Hausärzt:in oder Diabetolog:in aufsuchen, ebenso diejenigen, bei denen wiederholt schwere Hypoglykämien auftreten.

Vorbeugende Maßnahmen sind besser als Notfalltherapie!

Die Auswahl der Antidiabetika sollte das Gefahrenpotenzial von Hypoglykämien berücksichtigen und nach Metformin (kein Hypoglykämiepotenzial) die Therapie eskalieren durch GLP-1-Rezeptoragonisten (z.B. Dulaglutid, Semaglutid) und/oder SGLT-2-Hemmer (z.B. Empagliflozin, Dapagliflozin) und dabei die bei Typ-2-Diabetes oftmals noch vorhandene endogene Insulinreserve ausnutzen. Sulfonylharnstoffe sollten vermieden werden. Auch bei Auswahl der Insuline sollte das Hypoglykämierisiko Beachtung finden. Daher sollten langwirkende Basalinsuline mit stabilem Wirkprofil und möglichst niedriger intraindividueller Variabilität sowie als Bolusinsuline kurzwirksame Insulinanaloga, die sich am physiologischen Sekretionsprofil des Pankreas orientieren, bevorzugt werden.

Moderne Diabetestechnologie kann helfen, Hypoglykämien zu verhindern.

Moderne Technologie in der Diabetestherapie kann ebenfalls Unterzuckerungen verhindern. Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung mit Warnhinweisen helfen dabei, hypoglykämische Zustände abzuwenden. Abschalten der Basalinsulinzufuhr durch SmartGuard-Technologie in Insulinpumpen erhöht die Sicherheit besonders vor nächtlich auftretenden Hypoglykämien.

Während bei noch vorhandener endogener Insulinproduktion die therapeutischen Möglichkeiten zum Vermeiden einer Hypoglykämie schon sehr erfolgreich angewendet werden, schreitet die Entwicklung der Diabetestechnologie weiter zum Closed-
Loop-System voran. Dabei werden Devices erprobt, bei denen sowohl Insulin als auch Glukagon zur Verfügung steht, um stabile Blutzuckerverläufe mit hoher "Time in Range" (TIR) ohne Hypoglykämien zu generieren.

Insuline der Zukunft, die nur einmal in der Woche zu spritzen sind, haben ein noch stabileres Wirkprofil, Smart Insuline und hepatopräferenzielle Insuline befinden sich in der Entwicklung.

So kann die Diabetestherapie immer sicherer werden, denn es gilt:

Die Güte der Diabeteseinstellung, möglichst ohne Hypoglykämien, ist die Grundlage für die mentale Gesundheit bei Menschen mit Diabetes mellitus.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Hypoglykämien können durch die Stimulation von Adrenalin kardiale Symptome hervorrufen.
  • Durch den zerebralen Glukosemangel kann es zu Kognitions- und Affektstörungen und neurol. Ausfällen kommen.
  • Als Akuttherapie ist bei schwerer Hypoglykämie Glukagon (intranasal, i.m., s.c.) oder Glukose i.v. indiziert.



Autor

© evasaugenblicke.de
Dr. med. Christoph Axmann

Leitender Internist und Diabetologe DDG/ÄKN
Klinik Dr. Fontheim – Mentale Gesundheit
38704 Liebenburg
Interessenkonflikte: Der Autor erklärt, dass er finanzielle Unterstützung für Vorträge, Teilnahme an Advisory Boards und Kongressen erhalten hat von Abbott, Astra Zeneca, Aventis, Berlin-Chemie, Diabetes Akademie Niedersachsen, Diabetologen Hessen eG, Eli Lilly, MSD, Novartis, NovoNordisk, OmniaMed, Roche Diagnostics, Takeda.



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (4) Seite 30-33