Die Hypoglykämie ist ein stetiger Begleiter der Insulintherapie des Diabetes mellitus. Auch die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und die automatische Insulindosierung (AID) konnten das Problem nicht völlig aus der Welt schaffen. Zu bedenken sind in diesem Zusammenhang psychologische Barrieren wie die Wahrnehmung von Hypoglykämien, die Einstellung zu Glukosezielwerten und Vorbehalte gegenüber der Technik.
Generell gibt es zwei Definitionsarten der Hypoglykämie: (1) die symptomatische Hypoglykämie, bei der Anzeichen eines niedrigen Glukosewertes vom Patient:innen bemerkt werden, unabhängig von der eigentlichen Höhe des Glukosewertes, und (2) die biochemische Hypoglykämie, also das Auftreten eines Glukosewertes unter 70 mg/dl bzw. 3,9 mmol/l – unabhängig vom Auftreten von Symptomen. Die biochemische Hypoglykämie lässt sich noch weiter unterteilen [1]:
- Level-1-Hypoglykämie: Glukosewerte zwischen 69 und 54 mg/dl (3,8 – 3,0 mmol/l). Der Anteil der Glukosewerte innerhalb dieser Grenzen sollte weniger als 4% betragen [2].
- Level-2-Hypoglykämie: Glukosewerte < 54 mg/dl bzw. 3,0 mmol/l. Für diesen Bereich sollte der Anteil der Glukosewerte bei < 1% liegen [2].
Schwere Hypoglykämie
Eine schwere Hypoglykämie, bei der Fremdhilfe notwendig ist, oder gar eine sehr schwere Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit sollte am besten überhaupt nicht auftreten, da diese mit einer Risikoerhöhung für mikro- und makrovaskuläre sowie kardiovaskuläre Ereignisse einhergeht [3].
Zum Glück ist es nur eine Minderheit der Menschen mit Typ-1-Diabetes, die von schweren Hypoglykämien betroffen ist [4]. Insgesamt liegt die 12-Monats-Inzidenz der schweren Hypoglykämie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes bei ca. 8 % [5]. Aber auch Menschen mit Typ-2-Diabetes, die Insulin spritzen, sind von Hypoglykämien betroffen. Eine Metaanalyse zeigte, dass die Prävalenz der schweren Hypoglykämie bei 21 % lag, mit einer Inzidenz von 1,05 Events pro Personenjahr [6].
Effekte von Diabetes-Technologie auf Hypoglykämien
In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) den Anteil von Hypoglykämien signifikant senken konnten [7]. Aber auch schwere Hypoglykämien konnten durch die Nutzung von CGM-Systemen vermieden werden [8, 9]. Ein entscheidender Mechanismus dieses Effekts scheint das frühzeitigere Einnehmen von Hypo-KE/-BE zu sein [10]. CGM-Systeme sind somit ein effektives Mittel zur Vermeidung von Hypoglykämien.
Systeme zur automatisierten Insulindosierung (AID), bei der ein Algorithmus aufgrund der CGM-Daten die jeweils benötigte Insulindosis fortlaufend automatisch berechnet und über die Insulinpumpe abgibt, haben die Insulintherapie ein Stückweit revolutioniert. Mit diesen AID-Systemen ist nicht nur eine Verbesserung des HbA1c-Wertes möglich, sondern auch eine signifikante Reduktion hypoglykämischer Glukosewerte [11]. Ganz verschwunden sind Hypoglykämien aber selbst durch diese CGM- und AID-Systeme nicht [7, 12].
Hypoglykämie als psychosoziales Problem
Menschen mit insulinbehandeltem Diabetes sind ständig dem Risiko von Hypoglykämien ausgesetzt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass Hypoglykämien zu den drei bedeutendsten Belastungsquellen des Diabetes gehören [13 – 15]. Sie sind daher eine relevante Quelle von Diabetes-Distress, einer diabetesspezifischen emotionalen Belastungsreaktion [13]. Eine neue Untersuchung zum Alltag von Menschen mit Typ-1-Diabetes konnte zeigen, dass diese ca. 7 Tage pro Monat durch Hypoglykämien im erhöhten Maße belastet sind [16]. Zudem kann es auch zum Erleben von Angst vor Hypoglykämien kommen [17]. Die Angst vor Hypoglykämien kann dabei so groß wie die Angst vor Folgeerkrankungen wie Retinopathie oder Nephropathie werden [18]. Die Prävalenz einer klinisch relevanten Angst vor Hypoglykämien kann auf ca. 30 % geschätzt werden [19]. Diese emotionale Belastung durch sowie die Angst vor Hypoglykämien haben auch Auswirkungen auf das Verhalten. So konnte gezeigt werden, dass es häufig zu Reduktionen der Insulindosis, Auslassen der Insulininjektion, Anheben des Glukose-Zielwertes oder dem Essen größerer Snacks kommt [20 – 23].
Aber auch Angehörige von Menschen mit Diabetes werden durch tatsächlich auftretende Hypoglykämien oder die Angst davor belastet. Die DAWN2-Studie konnte zeigen, dass 60 – 65 % der Angehörigen angeben, sich sehr viele Sorgen über das Auftreten von Unterzuckerungen zu machen [24 –26].
Erfolgreiches Hypoglykämie-Management
Es können vier Aspekte eines erfolgreichen Hypoglykämie-Managements unterschieden werden:
- Sichere Hypoglykämie-Wahrnehmung
- Vermeidung von Hypoglykämien
- Keine Risikoerhöhung für Folgeerkrankungen durch das Anheben von Glukose-Zielwerten
- Keine klinisch relevante Angst vor oder Belastung durch Hypoglykämien (Abb. 1).
Eine zuverlässige und frühzeitige Wahrnehmung der Anzeichen einer Hypoglykämie ist die Grundlage für einen sicheren Umgang mit Hypoglykämien [27]. Denn nur so können Hypoglykämien rechtzeitig erkannt und dadurch auch behandelt werden. Mit Hilfe von Diabetes-Technologien wie CGM- oder AID-Systemen können Hypoglykämien effektiv vermieden werden, ohne dabei Glukose-Zielwerte anheben zu müssen. Zu einem erfolgreichen Hypoglykämie-Management gehört aber auch ein guter persönlicher Umgang mit dem Thema Hypoglykämie, ohne dass es zu einer eingeschränkten Lebensqualität aufgrund erhöhter Ängste oder Belastungen kommt.
Psychosoziale Barrieren
Eine der relevantesten Barrieren eines erfolgreichen Hypoglykämie-Managements ist die eingeschränkte Wahrnehmung von Anzeichen einer Hypoglykämie – auch Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung genannt. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass adrenerge Anzeichen einer Hypoglykämie, die typischerweise schon bei Glukosewerten um 70 mg/dl (3,9 mmol/l) auftreten, erst bei sehr niedrigen Glukosewerten auftreten und daher häufig erst nach neuroglykopenischen Anzeichen wahrgenommen werden [28]. Die Prävalenz wird bei Menschen mit Insulintherapie auf ca. 25 % geschätzt [29]. Die Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung ist ein relevanter Prädiktor für das Auftreten schwerer Hypoglykämien – selbst bei Nutzung moderner Diabetes-Technologien [28, 30].
Psychosoziale Barrieren für ein erfolgreiches Hypoglykämie-Management können aus zwei unterschiedlichen Quellen entstehen: Angst vor Folgeerkrankungen und Angst vor Hypoglykämien. Psychosoziale Barrieren, die aus Angst vor Folgeerkrankungen entstehen, sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass sehr strenge Glukose-Zielwerte angestrebt werden, die das Auftreten von Hypoglykämien wahrscheinlicher machen. Zudem werden häufig auch Alarmgrenzen, bei denen das CGM-System vor Hypoglykämien warnt, herabgesetzt, so dass das CGM-System erst sehr spät Alarm schlägt und ein hypoglykämischer Glukosewert oft nicht mehr vermieden werden kann. Auch ist häufig zu beobachten, dass das Risiko für (schwere) Hypoglykämien sowie deren Gefährlichkeit heruntergespielt werden. Aus Angst vor Folgeerkrankungen werden somit Hypoglykämien in Kauf genommen, da diese häufig keine allzu hohe Priorität bzw. persönliche Relevanz haben. Psychosoziale Barrieren, die aus Angst vor Hypoglykämien entstehen, sind eher durch ein Anheben der persönlichen Glukose-Zielwerte gekennzeichnet, was wiederum das Entstehen von Folgeerkrankungen begünstigt. Zudem kann es aus der Angst heraus zu einer Reduktion oder gar zum Weglassen von Insulin kommen. Die Barrieren können sich aber auch in einem mangelnden Vertrauen in Diabetes-Technologie niederschlagen. Dies kann beispielsweise bei AID-Systemen dazu führen, dass häufiger manuell eingegriffen und damit der Algorithmus ausgeschaltet wird. So kann jedoch nicht das volle Potenzial von AID-Systemen ausgeschöpft werden.
Als weitere Barrieren für ein erfolgreiches Hypoglykämie-Management können auch Barrieren gegenüber der Nutzung von Diabetes-Technologien (CGM- und AID-Systeme) gelten. So zählen Störungen des Körperbilds durch das Tragen von CGM-Sensoren oder Insulinpumpen, das ständige Tragen der Geräte am Körper und Unsicherheiten, ob die Geräte funktionieren, zu den häufigsten Barrieren [31, 32]. Bei CGM-Systemen wird die Häufigkeit von (falschen) Alarmen häufig als Barriere beschrieben [31 – 33]. Aber auch generelle psychosoziale Probleme wie das Vorliegen einer Depression, familiäre Konflikte oder erhöhter Diabetes-Distress sollten als Barrieren verstanden werden [34] (vgl. Tabelle 1).
Adressierung psychosozialer Barrieren
Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung
Die Wahrnehmung von Hypoglykämien sollte regelmäßig erfasst werden. Hierzu gibt es ein einfaches Maß, den sogenannten GOLD-Score:
- Frage: "Wie häufig erkennen Sie eine beginnende Hypoglykämie?"
- Antwort auf einer Skala von 1 "immer" bis 7 "nie". Ab einem Wert von ≥ 4 kann man von einer Wahrnehmungsstörung ausgehen.
Die Behandlung einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung kann folgenden Prinzipien folgen:
- Fokus und Training der eigenen Körperwahrnehmung
- Adressierung dysfunktionaler Einstellungen zur Hypoglykämie
- Stärkung und Optimierung des Selbstbehandlungsverhaltens
- Evtl. geleitete Hypoglykämie-Exposition
- Sinnvolle Einstellung von (Vor-)Alarmen des CGM-Systems
Beachte: Zur Behandlung der Hypoglykämie-Wahrnehmung gibt es zertifizierte Schulungsprogramme (z.B. HyPOS, BGAT).
Dysfunktionale Einstellungen zu Hypoglykämie und Folgeerkrankungen
Im Gespräch lassen sich häufig dysfunktionale Einstellungen zur Hypoglykämie schnell erfassen. Hierbei sollte abgeklärt werden, bei welchen Glukosewerten sich die Person wohlfühlt bzw. welche Glukose-Zielwerte angestrebt werden und warum diese angestrebt werden. Zudem sollte das subjektiv empfundene Risiko für Hypoglykämie und die wahrgenommene Gefährlichkeit erfragt werden.
Dysfunktionale Einstellungen könnten wie folgt adressiert werden:
- Aufklärung über das generelle Risiko von Hypoglykämien
- Individuelle Analyse des Risikos für Hypoglykämien (z. B. Identifikation von Risikosituationen) und deren Gefährlichkeit
- Individuelle Analyse des Risikos für Folgeerkrankungen
- Gemeinsame Diskussion über Glukose-Zielwerte
In Studien konnte zudem gezeigt werden, dass sich durch die Nutzung von CGM- oder AID-Systemen auch die wahrgenommene Belastung durch Hypoglykämien verbessert [35, 36]. Durch die optimale Nutzung von Diabetes-Technologie kann so auch ein Beitrag zum Abbau dysfunktionaler Einstellungen geleistet werden.
Barrieren gegenüber Diabetes-Technologien
Auch Barrieren gegenüber CGM- oder AID-Systemen lassen sich im Gespräch sehr schnell herausfinden. Möglichkeiten, diese zu adressieren, sind unter anderem:
- Probetragen der Systeme für eine gewisse Zeit
- Strukturierte Schulung des Umgangs mit diesen Systemen
- Austausch mit anderen Menschen mit Diabetes, die diese Systeme nutzen
Fazit
Psychosoziale Barrieren spielen eine große Rolle hinsichtlich eines erfolgreichen Hypoglykämie-Managements. Der persönliche Umgang mit Hypoglykämien wird entscheidend von den eigenen Fertigkeiten zur Erkennung, Behandlung und Vermeidung von Hypoglykämien, aber auch von Einstellungen gegenüber Hypo- und Hyperglykämien geprägt. CGM- und AID-Systeme können beim erfolgreichen Hypoglykämie-Management helfen, aber auch hier sind Barrieren gegenüber der Technologie zu beachten.
- Mit CGM- und AID-Systemen lässt sich das Risiko von Hypoglykämien senken, aber nicht ganz vermeiden.
- Hypoglykämien sind eine relevante Quelle von Diabetes-Distress.
- Die Wahrnehmung von Hypoglykämien sollte regelmäßig erfasst werden.

PD Dr. Dominic Ehrmann
Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (8) Seite 36-39