Auf den Palliativstationen und in Hospizen werden meist zu fast 90% Tumorerkrankte versorgt. Auch in der SAPV sind über 50% der Versorgten Tumorpatient:innen. Laut Sterbestatistiken sterben jedoch fast 75% der deutschen Bevölkerung an Nichttumorerkrankungen, die ebenfalls häufig eine palliative Versorgung benötigen.

Im letzten Lebensjahr brauchen schätzungsweise mindestens 20% der Tumorpatienten und mindestens 5% der Nichttumorpatienten eine spezialisierte Palliativversorgung. Direkte Vergleiche anhand der Symptomlast (z. B. Bronchialkarzinom und COPD) zeigen, dass beide Patientengruppen ähnlich stark leiden, aber Nichttumorpatient:innen aufgrund des anderen Krankheitsverlaufs oft über eine längere Zeitspanne. Hinzu kommt, dass Nichttumorpatient:innen oft viele weitere Erkrankungen haben (Multimorbidität) mit zum Teil kognitiven Einbußen, so dass sie nicht mehr so gut über ihre Symptome berichten können. Eine wesentliche Barriere für die Palliativversorgung von vielen Nichttumorpatienten dürfte in dem schlechter vorhersagbaren Verlauf liegen. Viele Betroffene versterben nach längerem Siechtum aufgrund einer Komplikation, z. B. Pneumonie, Urosepsis, Lungenembolie, plötzlich und unerwartet. Orientieren wir uns am Lebensende und beginnen eine Palliativversorgung erst, wenn das Lebensende unmittelbar absehbar ist, so werden diese Patient:innen nie palliativ versorgt.

Es werden vier Verlaufsdynamiken des Krankheits- und Sterbeverlaufs fortgeschrittener Krankheiten unterschieden. Die erste Verlaufsdynamik (schwarze Kurve in Abb. 1) entspricht dem plötzlichen Tod. Die zweite Verlaufsdynamik (rote Kurve) entspricht dem häufigen Verlauf einer Tumorerkrankung mit lange recht gutem Funktionsstatus, der dann zum Lebensende hin kontinuierlich abnimmt. Die dritte Verlaufsdynamik (blaue Kurve) entspricht dem typischen Verlauf bei Herzschwäche oder chronischer Lungenerkrankung. Bei stetiger Abnahme der Funktion kommt es immer wieder zu Dekompensationen und Rekompensationen. Es ist häufig nicht absehbar, ob die Betroffenen eine Dekompensation überleben oder in deren Rahmen versterben. Die vierte Verlaufsdynamik (grüne Kurve) entspricht den Alterserkrankungen, z. B. Demenz, Morbus Parkinson. Die Betroffenen leben lange in einem schlechten funktionellen Status.

Die Abbildung erklärt, weshalb es in der Regel gut gelingt, Tumorpatient:innen in stationären Hospizen in den letzten Wochen ihres Lebens zu versorgen. Das Lebensende ist voraussagbar. Anders sieht es bei den übrigen Krankheitsverläufen aus, da hier der Tod häufig nicht vorhersehbar nach längerem Leiden eintritt.

Kardiopulmonale Erkrankungen

Typischerweise kommt es bei Herzinsuffizienz oder COPD neben längeren stabilen Krankheitsphasen mit allmählichem Abbau immer wieder zu Einbrüchen im Rahmen von Dekompensationen und eventueller Rekompensation. Während dieser Einbrüche besteht ein hoher kurativer Versorgungsbedarf bis hin zur Intensivmedizin. Eventuell parallel dazu haben die Betroffenen aber auch einen hohen palliativen Versorgungsbedarf, da die Situation von schweren Symptomen sowie Todesangst geprägt ist und keineswegs klar ist, ob sie von der Patient:in überlebt wird. Der Tod tritt aber auch häufig völlig unerwartet als plötzlicher Herztod ein. Eine überwiegend palliative Phase am Lebensende lässt sich daher oft gar nicht abgrenzen. Palliativversorgung muss daher anders konzipiert werden. Sie hat überwiegend parallel zur kurativen Versorgung zu geschehen.

Betroffene leiden vor allem unter
  • Luftnot,
  • Schwäche,
  • Fatigue,
aber auch vor allem später im Verlauf unter
  • Schmerzen,
  • Depressionen,
  • Angstzuständen,
  • Übelkeit und
  • Kachexie.

In der Symptombehandlung hilfreich ist der Einsatz von Opioiden gegen Luftnot, die ja bekanntlich zu einer Ökonomisierung der Atmung führen und bei vorsichtiger Titration auch bei kardiopulmonalen Krankheitsbildern gefahrlos angewandt werden können. Moderate körperliche Belastung kann, falls für die Betroffenen möglich, die sich entwickelnde körperliche Schwäche verzögern und zu einer Besserung der Fatigue-Symptomatik führen. Von herausragender Wichtigkeit ist eine gute Information der Betroffenen und ihrer An-/Zugehörigen über Diagnose, Krankheitsverlauf und Prognose, u. a. um eine gute Vorsorgeplanung zu ermöglichen.

Nierenerkrankungen

Menschen mit fortgeschrittenen Nierenerkrankungen leiden in erheblichem Maße an verschiedensten Symptomen, bevor sie recht frühzeitig sterben. Sie haben einen raschen, schweren Krankheitsverlauf in fortgeschrittenen Stadien. Trotz Nierentransplantationen und Nierenersatztherapien ist die Lebenserwartung deutlich verkürzt. Fortgeschritten Nierenerkrankte unter Dialyse haben eine auf ca. ¼ der gleichaltrigen Normalbevölkerung herabgesetzte Lebenserwartung. Ihre Lebenserwartung ist damit deutlich schlechter als die von Tumorpatienten oder AIDS-Erkrankten. Sie haben zahlreiche Begleiterkrankungen, die ihr Leiden massiv verstärken können.

Schmerzen sind mit 50–67% der Dialysepatient:innen häufig. Begleiterkrankungen wie diabetische Neuropathie, pAVK, KHK, Arthritis, Dekubitus sind häufige Schmerzursachen. Wichtig ist die gute Auswahl der Schmerzmedikamente mit Rücksicht auf die renale Situation (vgl. Infokasten S. 19). Besonders häufig haben die Betroffenen schwerwiegende, aber auch schwer behandelbare Symptome wie Juckreiz, Fatigue, Restless Legs, sexuelle Funktionsstörungen, Schlafstörungen. Gerade die zuletzt genannten Symptome werden oft nicht erfasst, weil nicht gezielt danach gefragt wird.

Schwierig ist die Entscheidung, wann eine Dialyse beendet werden sollte. Wichtig ist es, den Betroffenen die palliativen und supportiven Maßnahmen detailliert darzulegen, damit sie nicht das Gefühl bekommen, man könne nach Abbruch der Dialyse nichts mehr für sie tun.

Infokasten: Das WHO-Stufenschema angepasst an die Situation bei Niereninsuffizienz:
Stufe 1:
  • Bevorzugte Substanzen: Paracetamol, Metamizol
  • Keine NSAR!
Stufe 2:
  • Bevorzugte Substanz: Tilidin
  • Bei Tramadol Dosisanpassung erforderlich
Stufe 3:
  • Bevorzugte Substanzen: Fentanyl, Buprenorphin, Alfentanil, Levomethadon
  • Hydromorphon ebenfalls möglich, aber cave im Hochdosisbereich!
Koanalgetika
  • Gabapentin, Pregabalin: Dosisanpassung, da renal eliminiert!
  • Antidepressiva (in der Regel möglich, aber meist Dosisanpassung erforderlich!)

Neurologische Erkrankungen

In unserer alternden Gesellschaft sind zunehmend mehr Menschen von neurologischen Erkrankungen betroffen und werden mit diesen Erkrankungen versterben. Häufige neurologische Erkrankungen sind Schlaganfälle, Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Hirntumoren, Demenzen. Viele Betroffene haben ausgeprägte Einschränkungen der Beweglichkeit (Lähmungen etc.). Andere leiden an ausgeprägten kommunikativen, sprachlichen oder kognitiven Einschränkungen. Deshalb stellen sich wichtige Bereiche der Palliativversorgung wie Symptomerfassung, Ausübung der Autonomie, Lebensqualität, Vorsorgeplanung und Entscheidungsfindung ganz andersartig dar. Bei der Symptomerfassung gilt es dann, die andersartige Kommunikation zu entschlüsseln. Es muss nach Willensäußerungen andersartig kommunizierender Betroffener gesucht werden. Studien zur Lebensqualität Betroffener konnten zeigen, dass diese trotz maximaler Lähmungen teilweise eine unerwartet gute Lebensqualität empfinden. Das Beispiel des an ALS erkrankten Physikers Stephen Hawking mag dieses "Lebensqualitätsparadox" verdeutlichen.

Neurologisch Erkrankten wird häufig aufgrund ihrer kognitiven und sprachlichen Ausfälle Autonomie abgesprochen. Autonomie ist hier allerdings etwas, nach dem gezielt gesucht werden muss. Diese Suche ist manchmal schwierig, wenn aus den kaum verständlichen sprachlichen Äußerungen oder Gesten oder sogar nur einer Änderung der Atemfrequenz Autonomiereste herausgearbeitet werden müssen. Dieser so erfasste "natürliche Wille" ergänzt den gemutmaßten oder vorausverfügten Willen.

Wenn Schmerz- und Symptomerfassung mit üblichen Skalen nicht gelingt, muss erst analysiert werden, worin die Barriere besteht. Hat der Betroffene das Wort Schmerz vergessen und kennt er nur noch Begriffe wie "tut weh" oder "aua"? Besteht eine Sprachstörung, und wie ist diese geartet? Falls versucht wird, Schmerz anhand von mimischen Ausdrucksbewegungen abzuschätzen, so ist zu bedenken, dass diese bei vielen neurologischen Erkrankungen, z.B. bei M. Parkinson, verändert sein können.

Fazit
  • Palliativversorgung kann in der Versorgung von Menschen mit Nichttumorerkrankungen einen wichtigen Beitrag leisten. Herausfordernd ist dabei der ganz andere und schwerer vorhersehbare Krankheitsverlauf.
  • Manche Betroffene haben kognitive Veränderungen. Dies muss bei der Schmerz- und Symptomerfassung in einer suchenden Haltung berücksichtigt werden.
  • Ethische Fragen z. B. nach dem Abbruch einer Dialyse oder nach der Autonomie bei einem Menschen mit einer neurologischen Erkrankung spielen eine besondere Rolle und bedürfen der sensiblen Begleitung und guten Vorausplanung.
  • Palliative Mitbehandlung sollte schon frühzeitig im Krankheitsverlauf zum Teil parallel zu kurativ intendierten Therapien ermöglicht werden.
  • Dabei gilt, dass die Versorgung dort stattfinden sollte, wo die Betroffenen leben.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Man unterscheidet vier Verlaufsdynamiken des Krankheits- und Sterbeverlaufs fortgeschrittener Krankheiten.
  • Bei Herzinsuffizienz oder COPD lässt sich eine überwiegend palliative Phase am Lebensende kaum abgrenzen.
  • Nierenkrankheiten haben oft einen schweren Verlauf.


Literatur:
1. Gerhard C: Praxiswissen Palliativmedizin, Thieme, Stuttgart 2015
2. Gerhard C: Neuro Palliative Care, Huber, Bern 2011


Autor

© Christian Weische 2014
Dr. med. Christoph Gerhard

Arzt f. Neurologie, Palliativmedizin und spezielle Schmerztherapie
Niederrheinische Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung
46535 Dinslaken
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (9) Seite 18-20