Ein psychiatrischer Notfall definiert sich nicht durch das Krankheitsbild, dem er zugrunde liegt, sondern durch die Situation und die Symptomatik. Wenn eine psychiatrische Störung in eine akute Eskalation mündet, die den Betroffenen selbst oder seine Umgebung gefährdet, besteht eine Notfallsituation, die sofortiges Handeln erfordert. Beispiele sind ein Erregungszustand, eine Alkoholintoxikation oder eine Bewusstseinsstörung.

Ein psychiatrischer Notfall ist nach Pajonk [1] eine medizinische Situation, in der das akute Auftreten oder die Exazerbation einer bestehenden psychiatrischen Störung zu einer unmittelbaren Gefährdung von Leben und Gesundheit des Betroffenen und/oder seiner Umgebung führt und sofortiger Diagnostik und/oder Therapie bedarf [2]. Bis zu 14,7% aller Notarzteinsätze sind auf psychiatrische Notfälle zurückzuführen und damit die zweit- bis vierthäufigste Einsatzursache für die Notärzt:in [3]. Die häufigsten Einsätze wurden aufgrund von Alkoholintoxikationen (bis zu 43%), Erregungszuständen (bis zu 30%) und aufgrund von Suizidalität (bis zu 25%) gefahren [4] und sind in der Regel fremdmotiviert initiiert.

Kasuistik: Von der Katatonie zum Erregungszustand
Eine 21-jährige Patientin kommt in Begleitung ihrer Mutter in die Hausarztpraxis. Die Patientin zeigt sich angespannt, spricht jedoch zunächst nicht. Die Mutter schildert, dass sie sich seit einigen Tagen "merkwürdig" verhalte, da sie weder ans Telefon gehe noch die Tür aufmache, wenn sie bei ihr klingelt. Nach Angaben der Mutter sei ihre Tochter extrem misstrauisch, ängstlich und habe sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße getraut. Sie spreche kaum, esse und trinke sehr wenig. Als eine Blutentnahme erfolgen sollte, kommt es plötzlich zu einem raptusartigen Erregungszustand. Die junge Frau stößt den Arzt weg und wirft mit Gegenständen. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, wird die Patientin kurzzeitig im Raum alleine gelassen und die Tür zugesperrt sowie die Polizei gerufen. Die Patientin lässt sich daraufhin dazu bewegen, 1 mg Lorazepam oral einzunehmen. Polizei und Feuerwehr können sie anschließend problemlos in die zuständige Klinik bringen, wo eine weitere Diagnostik eingeleitet werden kann. Nach psychiatrischem Konsil erfolgt die Aufnahme in die psychiatrische Abteilung mit der Verdachtsdiagnose einer Drogen-induzierten Psychose, DD paranoide Schizophrenie/katatone Schizophrenie.

Eskalation kommt oft unerwartet

Die im Kasten geschilderte Kasuistik soll beispielhaft zeigen, dass eine zunächst als ungefährlich einzustufende Situation rasch zu einer Eskalation mit Fremdgefährdung führen kann. Insbesondere können wahnhafte Syndrome u. a. eine ausgeprägte Angstsymptomatik auslösen, welche dann ein (aggressives) Abwehrverhalten der Patient:in zur Folge haben kann. Wahnhafte/ schizophreniforme Störungen, aber auch Intoxikationen, Delirien, manische Episoden (mit oder ohne Wahn) können zu raptusartiger Gewalt führen und gelten als psychiatrischer Notfall. Auch akute Suizidalität, Verkennungen im Rahmen von Demenzen und schwere Nebenwirkungen von psychotropen Medikamenten, wie das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) oder schwere extrapyramidale Nebenwirkungen (EPS), werden zu diesen Notfällen gezählt. Letztlich kann aber auch bei jeder anderen psychischen Störung ein akut handlungsbedürftiger Zustand entstehen, wie etwa bei subjektiv erlebten Todesängsten im Rahmen einer Panikstörung oder Dissoziation im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Persönlichkeitsstörung.

Nachfolgend werden einzelne Syndrome dargestellt, die am häufigsten als Notfall deklariert werden: Bewusstseinsstörungen, akute Erregungszustände und Suizidalität. Dabei sind die Übergänge insbesondere bei den beiden erstgenannten Syndromen fließend. Weiterhin werden rechtliche Aspekte, wie die rechtliche Unterbringung einer akut erkrankten Patient:in sowie die Rechtfertigung eines medizinischen Eingriffs gegen den Willen einer psychisch erkrankten Patient:in, dargestellt.

Bewusstseinsstörungen

Bewusstseinsstörungen werden in quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen unterteilt. Eine quantitative Bewusstseinsstörung liegt bei einer verminderten Vigilanz vor und kann mittels der Glasgow-Coma-Skala (GCS) ermittelt werden. Eine verminderte Vigilanz kann beispielsweise bei Intoxikationen, aber auch bei deliranten Syndromen auftreten. Die qualitative Bewusstseinsstörung beschreibt bei erhaltener Vigilanz eine Minderung der Bewusstseinsklarheit. So kann beispielsweise der Genuss von Alkohol, auch schon in niedrigen Dosen, zu einer Bewusstseinstrübung führen. Weitere qualitative Bewusstseinsstörungen sind Einengung (zum Beispiel Fixierung auf ein Erlebnis mit fehlender Reaktion auf Ansprache) und Verschiebung (wie zum Beispiel ein Trance-Erlebnis nach Drogeneinnahme). Quantitative Bewusstseinsstörungen findet man also häufig bei Alkohol-/Drogenkonsum, können aber auch im Rahmen von neurologischen Erkrankungen, wie zum Beispiel einer Epilepsie, auftreten. Zudem sind sie ein Kernsymptom bei Delirien.

Delirien

Nach ICD-10 ist das Delir gekennzeichnet durch [5]:

  • fluktuierende Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit
  • globale Störung der Kognition
  • Wahrnehmungsstörungen, Illusionen und Halluzinationen (meist optisch)
  • Beeinträchtigungen des abstrakten Denkens und der Auffassung
  • Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses
  • Desorientierung (Zeit > Situation > Ort > Person)
  • Störung der Psychomotorik
  • Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • affektive Störungen (Depression, Angst, Reizbarkeit, Euphorie, Apathie)
  • wahnhaftes Erleben

Sie können Substanz-unabhängig, aber auch im Rahmen von Intoxikationen und bei Entzugssymptomen, beispielsweise von Alkohol und Benzodiazepinen, auftreten.

Cave: Zur Verhinderung eines Alkoholentzugs- oder Benzodiazepinentzugssyndroms, welches in ein lebensgefährliches Delir mit epileptischen Anfällen münden kann, sollte einer Patient:in mit Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit eine (elektive) Entzugsbehandlung in einer qualifizierten Klinik angeraten werden. Das abrupte Absetzen von Alkohol oder Benzodiazepinen ist kontraindiziert.

Entzugssymptome können vegetativ (Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen, Unruhe), aber auch psychisch (eingeengtes Denken, Craving, affektive Symptome) sein. Ein Entzug muss engmaschig ärztlich begleitet werden. Bei schon bestehenden Entzugssymptomen, zum Beispiel bei Vorstellung in der Praxis, kann sogar angeraten werden, den Konsum von Alkohol wieder aufzunehmen, bis die Patient:in in einer Klinik aufgenommen werden kann. Bei fortgeschrittener Entzugssymptomatik sollte ein Benzodiazepin (Lorazepam 1 –2mg, Oxazepam 10 – 20mg, Diazepam 5 – 10mg) oder Clomethiazol (1 – 2 Kapseln) gegeben werden, sofern keine Intoxikation mehr besteht und keine Kontraindikation für Clomethiazol (z. B. Asthma bronchiale). Auch die hochdosierte Gabe von Thiamin (oral: 200 – 400mg oder intravenös: 50 – 200mg) kann gerechtfertigt sein, insbesondere wenn schon Symptome einer Wernicke-Enzephalopathie auftreten (Trias: Bewusstseinsstörung, Desorientiertheit, neurologische Symptome wie Augenmuskelstörungen und Gangataxie).

Substanzunabhängige hyperaktive Delirien werden im Gegensatz zu hypoaktiven Delirien früher erkannt. Prädisponierende Faktoren sind unter anderem ein hohes Lebensalter, Malnutrition, neurologische und internistische Erkrankungen wie M. Parkinson, Schlaganfall und Diabetes mellitus, aber auch Demenzen. Weitere Risikofaktoren sind eine Polypharmazie, anticholinerge Medikamente, Lungen- und Harnwegsinfektionen, aber auch Anämien und Schmerz [6].

Gerade bei älteren, polypharmazeutisch behandelten Patient:innen sollte man alle Medikamente auf Indikation, Nebenwirkungen und Wirksamkeit prüfen, um die Gefahren eines Delirs und kognitiver Störungen aufgrund einer "Übertherapie" zu minimieren. Bewährt haben sich dabei z. B. die PRISCUS-Liste oder die FORTA-Liste [7, 8].

In einer Studie an Patient:innen mit Alzheimer-Demenz, die akut in einer Klinik aufgenommen wurden, zeigten sich deutlich erhöhte Mortalitätsraten bei Patient:innen mit hyperaktivem Delir im Vergleich zu nicht deliranten Patienten [9]. Ein rasches Erkennen sowie die symptomatische Behandlung sind daher unabdingbar. Zur Basisdiagnostik gehört neben der körperlichen Untersuchung eine Labordiagnostik, um die Ursache festzustellen (Infektparameter, Urämie, Leberenzyme und ggf. Toxikologie). Auch eine kranielle Bildgebung (cCT, CMRT) und ggf. Liquorpunktion sollten im Einzelfall zum Ausschluss neurologischer Erkrankungen erfolgen. Therapeutisch ist die Behandlung der Grunderkrankung zielführend. Bei hyperaktiven Delirien ist im Einzelfall eine Pharmakotherapie indiziert, um eine Gefährdung der Patient:in (z.B. bei starker Erregung oder Wahn), aber auch eine Fremdgefährdung zu reduzieren. In einer kürzlich publizierten Studie erwies sich Haloperidol in einer möglichst niedrigen Dosierung (1 – 5mg), ggf. in Kombination mit einem Benzodiazepin, gegenüber anderen Antipsychotika als am wirksamsten [10]. Allerdings sollten, wenn möglich, immer erst nichtpharmakologische Strategien wie eine ruhige Umgebung, Orientierungshilfen und die symptomatische Behandlung (Ausgleich einer Exsikkose etc.) vorgezogen werden, da insbesondere Benzodiazepine die Dauer des Delirs auch verlängern können.

Intoxikationen

Intoxikationen können zu Verhaltensstörungen inklusive Aggressionen, neurologischen Störungen, aber auch qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörungen führen. Neben der häufigsten Intoxikation mit Alkohol spielen auch andere Drogen sowie Medikamente (akzidentell im Rahmen von pharmakodynamischen und -kinetischen Wechselwirkungen sowie in suizidaler Absicht) eine Rolle. Daher gilt es, zunächst die Substanz der Intoxikation zu detektieren, entweder anamnestisch oder mittels Toxikologie. Je nach GCS und Ausprägung der Symptomatik ist ein differenziertes Vorgehen angezeigt.

Bei einer reinen qualitativen Bewusstseinsstörung ist abzuschätzen, ob eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, um gegebenenfalls rasch einzugreifen (siehe unter Erregungszustände). Bei unklarer Ursache ist bei der Gabe von Benzodiazepinen Vorsicht geboten, um möglicherweise kumulative Nebenwirkungen (beispielsweise Atemdepression bei Einnahme von Sedativa/Alkohol) zu vermeiden. Bei Mischintoxikationen und Erregungszuständen kann in Einzelfällen eine Fixierung ohne Medikation am sinnvollsten sein. Wenn eine Medikation bei Fortbestehen der Erregung/Aggressivität notfallmäßig gegeben werden muss, dann sollte eher auf ein Antipsychotikum in niedriger Dosis zurückgegriffen werden (z. B. Haloperidol 1 bis 5 mg, Risperidon 1 – 3 mg).

Katatone Syndrome

Katatone Syndrome treten in der Regel im Rahmen von (katatonen) Schizophrenien auf, können aber auch beispielsweise bei schweren Depressionen in Erscheinung treten (vgl. Infokasten).

Differenzialdiagnostisch davon abzugrenzen sind insbesondere neurologische Erkrankungen sowie dissoziative Syndrome im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolgestörungen. Wenn möglich kann die Erhebung der Fremdanamnese Aufschluss geben (welche Erkrankungen in der Vorgeschichte, Einnahme von Drogen etc.). Eine sofortige Diagnostik ist dringend indiziert, da eine unbehandelte Katatonie ein erhöhtes Mortalitätsrisiko hat, insbesondere die perniziöse Katatonie, die einhergeht mit Fieber, CK-Erhöhung, Elektrolytentgleisung und Exsikkose. Hier ist eine intensivmedizinische Überwachung indiziert. Ansonsten ist die Gabe eines Benzodiazepins sowie Flüssigkeitssubstitution das Mittel der Wahl, je nach Ausprägung auch intravenös (zum Beispiel 1 – 3 mg Lorazepam). Doch Vorsicht: Ein katatoner Stupor kann schnell in einen Erregungszustand übergehen, daher sollte die Intervention niemals ohne Begleitpersonen erfolgen (siehe Fallbeispiel zu Beginn).

Katatone Syndrome
Katatone Syndrome sind laut ICD-10 [5] gekennzeichnet durch:
  • Mutismus (spricht nicht)
  • Motorische Hemmung bis Stupor ("Leibstarre") bei wachem Bewusstseinszustand
  • Stereotypien (z. B. Grimassieren)
  • Nachahmungsautomatien(z. B. Echolalie)
  • Negativismus (aktiver Widerstand gegen passive Bewegung)
  • Katalepsie (Beibehaltung der Körperstellung auch gegen Widerstand)
  • Der Übergang in einen katatonen Erregungszustand ist häufig fließend.

Erregungszustände

Erregungszustände kommen bei Intoxikationen, aber auch im Rahmen anderer psychischer und auch somatischer Erkrankungen vor. So sind Erregungszustände, insbesondere bei wahnhaften Störungen, meist im Rahmen einer Schizophrenie, aber auch bei bipolar-manischen Patient:innen oder im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder Angststörungen anzutreffen. Auch bei Patient:innen mit akuten Schmerzsyndromen, Diabetespatient:innen mit Hypoglykämien oder einer akuten Atemnot können Erregungszustände auftreten. In vielen Fällen liegt aufseiten der erregten Patient:in zunächst keine Kooperationsbereitschaft vor, so dass die unmittelbare Gefährdung in der Umgebung zunächst abgesichert werden muss. Deeskalierende Strategien sowie Abstand halten sind geboten. In vielen psychiatrischen Kliniken werden Deeskalationstrainings, wie beispielsweise das ProDeMa®, angeboten, bei denen viele hilfreiche Strategien aufgezeigt und geübt werden. So sind ein sicheres Auftreten, wohlwollendes Verständnis, aber auch klare Signale (zum Beispiel Schreien bei Angriffshaltung der Patient:in) Interventionsmöglichkeiten. Der Eigenschutz geht vor, daher ist es immer ratsam, möglichst viele Personen als Unterstützer zu organisieren. Bei erfolgreicher Deeskalation ist die weitere Diagnostik mittels Fremdanamnese, körperlicher Untersuchung, Labor, ggf. Toxikologie und ggf. erweiterter Diagnostik indiziert und eine daraus abgeleitete Behandlung. Ist keine Deeskalation möglich, kann eine mechanische Beschränkung, zum Beispiel Fixierung, nötig werden, ggf. unter Hinzuziehen der Polizei. Zur raschen pharmakologischen Intervention stehen insbesondere Benzodiazepine als Notfallmedikament zur Verfügung – mit Ausnahme von erregten Patient:innen im Rahmen von Alkoholintoxikationen (cave: Atemdepression). So können beispielsweise Lorazepam bis 6 mg oder Diazepam bis 30 mg bevorzugt oral, aber vorsichtig auch intravenös oder intramuskulär – sofern keine Kontraindikation besteht – gegeben werden, beginnend mit niedrigen Dosierungen. Bei maniformen Syndromen im Rahmen von bipolaren Störungen oder schizophreniformen Störungen können Antipsychotika, in Monotherapie oder kombiniert mit Benzodiazepinen, indiziert sein. Alle mittel- und hochpotenten Antipsychotika sind in dieser Indikation wirksam, einige haben jedoch keine Zulassung. Die intravenöse Gabe ist lediglich für Haloperidol und Benperidol verfügbar, wird aber aufgrund der seltenen, aber schweren Nebenwirkungen nicht mehr empfohlen bzw. nur unter Monitor-Kontrolle. Für Aripiprazol, Olanzapin, Haloperidol, Ziprasidon und Zuclopenthixol ("3-Tage-Depot") gibt es Formulierungen, die auch intramuskulär gegeben werden können (cave: nicht zu verwechseln mit Depots). Die Zeit bis zum Eintritt der Wirksamkeit ist mit ca. 15 Minuten am kürzesten für Olanzapin und Aripiprazol, die Gefahr für EPS ist unter Haloperidol am höchsten.

Cave: Parenterales Olanzapin darf nicht in Kombination mit parenteral verabreichten Benzodiazepinen gegeben werden.

Erregungszustände im Rahmen von Demenzen sollten vornehmlich nichtpharmakologisch behandelt werden. Dies zum einen aufgrund der Nebenwirkungen, aber auch aufgrund der in der Regel raschen Deeskalationsmöglichkeiten bei situativen Verkennungen, die in diesem Rahmen häufig zu Erregungszuständen führen. Ein "Talkingdown", das Schaffen einer ruhigen Umgebung und verständnisvolles Zuhören sowie Akzeptanz des Nahbereiches können hilfreiche Strategien sein. Der sogenannte "DICE-Approach" (aus dem Englischen: Describe, Investigate, Create, Evaluate) kann dabei helfen zu beurteilen, welche Situationen zur Erregung führen und welche Interventionsmöglichkeiten individuell helfen können [11].

Hausärzt:innen, die Heimpatient:innen betreuen, sollten mit der Verschreibung von psychotrop wirksamen Substanzen bei Demenzpatient:innen zurückhaltend sein. Insbesondere die länger andauernde Gabe von Antipsychotika sollte vermieden werden, da einerseits die Mortalitätsrate unter einer solchen Medikation erhöht ist und andererseits die Wirksamkeit in vielen Fällen nicht eindeutig ist und spätestens nach 12 Wochen reevaluiert werden sollte [12, 13].

Suizidalität

Im Jahr 2019 lag die Suizidrate in Deutschland laut der WHO bei 12,3 pro 100.000 Einwohnern [14]. Als Risikofaktoren konnten männliches Geschlecht, höheres Lebensalter, ein Leben als Single und in der Stadt sowie sozioökonomischer Status ausgemacht werden [14]. Psychiatrische Erkrankungen sind bei ca. 90% aller Suizidversuche vorhanden, aber auch (chronische) Schmerzen gehen mit erhöhter Suizidalität einher [15]. Affektive Störungen, allen voran die unipolare oder bipolare Depression, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen gehen mit Suizidraten von bis zu 20% einher [16].

Bei Selbstschädigung ohne Intention eines tödlichen Ausgangs spricht man nicht von Suizidalität. Jedoch sollten diese Selbstverletzungen ernst genommen und eine psychiatrische Diagnostik sowie – je nach Krankheitsbild – eine psychotherapeutische und ggf. pharmakologische Therapie eingeleitet werden. Patient:innen, die einen Suizid ankündigen oder einen Suizidversuch unternommen haben, sollten in jedem Fall psychiatrisch vorgestellt werden. Die Einschätzung, ob eine akute Suizidalität besteht und ob daher eine akute Behandlung initialisiert werden muss, ggf. sogar gegen den Willen der Patient:in, sollte durch eine Fachärzt:in erfolgen.

In einer retrospektiven Analyse an der Charité konnte gezeigt werden, dass ca. 30% aller Patient:innen nach einem Suizidversuch nach psychiatrischem Konsil nach Hause entlassen werden konnten, da sie sich unmittelbar danach von akuter Suizidalität distanzieren konnten [17]. Je nach Diagnosestellung sollte die Therapie ausgerichtet sein: Bei akuter Suizidalität und einer psychiatrischen Erkrankung, jedoch fehlender Krankheitseinsicht, zum Beispiel im Rahmen schwerer depressiver Episoden oder Schizophrenien, ist eine Unterbringung nach PsychKG zu überprüfen – in der Regel erfolgt dies durch das Hinzuziehen des sozialpsychiatrischen Dienstes oder aber in einer psychiatrischen Klinik. Eine entspannende Medikation mit Benzodiazepinen (Lorazepam, Diazepam) kann in der Akutsituation indiziert sein. Im Folgenden ist die Grunderkrankung leitliniengerecht zu behandeln (zum Beispiel bei Depression Psychotherapie, Antidepressivum, supportive andere Therapien). Die Abfrage der Suizidalität sollte dabei regelmäßig erfolgen.

Hinweise für akute Suizidalität, die abgefragt werden sollten:
  • Äußerungen von suizidalen Gedanken
  • Beschäftigung mit dem Thema (z. B. Internet)
  • fehlende Distanzierung nach einem Suizidversuch
  • kürzlicher Suizidversuch in Familie/Freundeskreis
  • lang andauernde oder häufige Suizidgedanken
  • automatischer/zwanghafter Charakter der Suizidgedanken
  • Suizidmethode schon durchdacht und verfügbar
  • konkrete Vorbereitung getroffen (Tabletten sammeln, Abschiedsbrief)
  • Patient:in findet kaum Gründe zum Weiterleben
  • keine Familie (oder diese ist "egal")
  • starke Schuld- und Wutgefühle (cave: "Mitnahme"-Suizid)
  • gelassene Schilderung der Suizidüberlegungen, (pseudo-)rationaler Entscheidungsprozess
  • plötzliche, unerklärliche Gelassenheit/Heiterkeit nach Suizidüberlegung

Rechtliche Aspekte

In der psychiatrischen Notfallbehandlung spielt das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) eine entscheidende Rolle. Bei psychischen Erkrankungen, die mit einer akuten Gefährdung für die Patient:in selbst (Eigengefährdung) oder aber für die Umgebung (Fremdgefährdung) einhergehen, kann eine Unterbringung nach dem PsychKG notwendig werden, insbesondere dann, wenn die Patient:in aufgrund der Erkrankung nicht mehr in der Lage einer freien Willensäußerung ist. So sind schwer depressive Patient:innen, genauso wie wahnhafte Patient:innen, aber auch delirante Patient:innen häufig nicht mehr in der Lage, ihren freien Willen zu äußern, da psychiatrische Symptome (eingeengtes und/oder wahnhaftes Denken, ggf. akustische Halluzinationen in Form von Stimmen, Orientierungsstörungen) funktionale Handlungen unmöglich machen. EineÄrzt:in, die diese akute Gefährdung anhand von (fremd-)anamnestischen Angaben und einer sorgfältigen Erhebung des psychopathologischen Befundes einschätzt, kann eine Patient:in zu ihrem Schutze für 24 Stunden (regional am Wochenende bis 48 Stunden möglich) nach PsychKG unterbringen, muss jedoch innerhalb dieser 24 Stunden eine Amtsärzt:in hinzuziehen. Wird die Gefährdung durch diese ebenso akut eingestuft, entscheidet eine Richter:in des Amtsgerichtes nach einer Anhörung über die Unterbringung und Unterbringungsdauer.

Im Rahmen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) können Unterbringungen zur Heilbehandlung durch eine gesetzliche Betreuer:in oder Vorsorgebevollmächtigte initiiert werden. In diesem Rahmen kann auch eine Medikation gegen den Willen der Patient:in angeregt werden – dies wird nach fachärztlichem Gutachten richterlich durch das Amtsgericht entschieden. Am häufigsten werden Patient:innen mit Schizophrenie und manische Patient:innen im Rahmen von bipolaren Störungen oder schizoaffektiven Störungen bei fehlender Krankheitseinsicht untergebracht. Häufig kann sich die Genehmigung einer Zwangsmedikation in die Länge ziehen und einige Wochen dauern.

Bei akuten Gefährdungen der Patient:in ist eine solch lange Wartezeit natürlich nicht möglich. Patient:innen, die krankheitsbedingt nicht in der Lage sind, die Tragweite bestimmter akuter therapeutischer Interventionen zur Abwendung eines gesundheitlichen Schadens zu erfassen, können akut gefährdet sein. Es muss die Einwilligungsfähigkeit überprüft werden.

Fallbeispiel:Ein alkoholabhängiger Patient wird von seiner Ehefrau beim Hausarzt vorgestellt, da er am Morgen blutig erbrochen und starke abdominelle Schmerzen hat. Der Patient hat bereits am Morgen wieder Alkohol getrunken und ist eindeutig intoxikiert. Er lehnt jede Form der Behandlung ab, da es ihm gut gehe und er "nichts habe". Auch nach Aufklärung, dass er sterben könnte, lächelt der Patient und verlangt mehr Alkohol, davon werde er wieder gesund.

Es ist davon auszugehen, dass der Patient aufgrund der Alkoholintoxikation eine qualitative Bewusstseinsstörung hat und das Ausmaß der möglichen Erkrankung (zum Beispiel akute gastrointestinale Blutung) nicht versteht und daher ablehnt. Aufgrund der Bewusstseinsstörung besteht aktuell keine Einwilligungsfähigkeit. Eine Blutentnahme und diagnostische Gastroskopie sind indiziert und können dann gegen den Willen durchgeführt werden, wenn es als "Übergesetzlicher Notstand" nach §34 StGB deklariert werden kann. Demnach bleibt die "Straftat" derÄrzt:in (Gastroskopie gegen den Willen der Patient:in) straffrei, wenn

  1. ein höherrangiges Rechtsgut betroffen ist (Leben, Gesundheit),
  2. Gefahr im Verzug ist und
  3. die "Tat" ein angemessenes Mitteldarstellt,diese Gefahr abzuwenden.

Somit kann die Hausärzt:in in der Praxis auch gegen den Willen der Patient:in einen Transport mit Feuerwehr und Polizei in eine Notaufnahme initiieren.

Fixierungen

Fixierungen sollten möglichst vermieden werden, können aber zur akuten Gefahrenabwehr (auch bei Eigengefährdung) ein probates Mittel sein. Jede Fixierung über vier Punkte und über 30 Minuten ist richterlich genehmigungspflichtig. Definierungen sollten so bald wie möglich angestrebt werden.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Ein psychiatrischer Notfall bedarf sofortiger Diagnostik und Therapie.
  • Am häufigsten sind Alkoholintoxikationen, Erregungszustände und Suizidalität.
  • Eine Katatonie kann schnell in eine Erregung wechseln.


Literatur:
1. S2K-Leitlinie Notfallpsychiatrie (2019), AWMF online, Abruf 23.09.2020.
2. Pajonk, F. G., Poloczek, S., & Schmitt, T. K. (2000). Der psychiatrische Notfall - Abgrenzung zu Psychotraumatologie und Krise. Notfall Rettungsmed 2000;3:363–370.
3. Pajonk, F.-G., & Messer, T. Psychiatrische Notfälle. Psychiatrie Und Psychotherapie up2date 2010; 3(04):257–276.
4. Pajonk, F. G., & D’Amelio, R. Erregungszustände, Aggression und gewalttätiges Verhalten im Notarzt- und Rettungsdienst. Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie 2008; AINS 43(7–8): 514–521.
5. World Health Organization. ICD-10: international statistical classification of diseases and related health problems : tenth revision, 2nd ed. 2004; World Health Organization.
6. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Potentially inappropriate medications in the elderly: the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int. 2010 Aug;107(31-32):543-51. doi: 10.3238/arztebl.2010.0543.
7. Wehling M. How to use the FORTA ("Fit fOR The Aged") list to improve pharmacotherapy in the elderly. Drug Res 2016; 66: 57-62.
8. Pérez-Ros P, Martínez-Arnau FM. Delirium Assessment in Older People in Emergency Departments. A Literature Review. Diseases. 2019: Jan 30;7(1):14.
9. Fong TG, Jones RN, Marcantonio ER, Tommet D, Gross AL, Habtemariam D, Schmitt E, Yap L, Inouye SK. Adverse outcomes after hospitalization and delirium in persons with Alzheimer disease. Ann Intern Med. 2012 Jun 19;156(12):848-56, W296.
10. Wu YC, Tseng PT, Tu YK, Hsu CY, Liang CS, Yeh TC, Chen TY, Chu CS, Matsuoka YJ, Stubbs B, Carvalho AF, Wada S, Lin PY, Chen YW, Su KP.Association of Delirium Response and Safety of Pharmacological Interventions for the Management and Prevention of Delirium: A Network Meta-analysis.JAMA Psychiatry. 2019 May 1;76(5):526-535.
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12. Maust DT, Kim HM, Seyfried LS, Chiang C, Kavanagh J, Schneider LS, Kales HC. Antipsychotics, other psychotropics, and the risk of death in patients with dementia: number needed to harm. JAMA Psychiatry. 2015 May;72(5):438-45.
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14. https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/bevoelkerung-arbeit-soziales/gesundheit/Suizid.html
15. Hawton, K., Houston, K., Haw, C., Townsend, E., & Harriss, L. (2003). Comorbidity of axis I and axis II disorders in patients who attempted suicide. The American Journal of Psychiatry, 160(8), 1494-1500.
16. Van Leeuwen E, Petrovic M, van Driel ML, De Sutter AI, Vander Stichele R, Declercq T, Christiaens T. Withdrawal versus continuation of long-term antipsychotic drug use for behavioural and psychological symptoms in older people with dementia. Cochrane Database Syst Rev. 2018 Mar 30;3:CD007726.
17. Tauch D, Winkel S, Quante A. Psychiatric consultations and therapy recommendations following a suicide attempt in a general hospital and their associations with selected parameters in a 1-year period. Int J Psychiatry Clin Pract. 2014 Jun;18(2):118-24.


Autor

© privat
Priv.-Doz. Dr. med. Arnim Quante

Friedrich von Bodelschwingh-Klinik
10717 Berlin
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Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (1) Seite 34-41