Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet auch, sich Prävention und Gesundheitsförderung leisten zu können. Und das können immer weniger Menschen:

Eine Entwicklung, die sich durch Inflation und steigende Preise weiter verschärfen dürfte. Das ist nicht nur schlecht für das Klima in den kalten Stuben. Auch der allgemeine Umgang miteinander könnte frostig werden — und das werden auch die Praxisteams zu spüren bekommen.

Die Armut in Deutschland ist deutlich angestiegen – eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die sozialen Stresstests durch Pandemie, Ukraine-Krieg und Rekordinflation: Der finanzielle Rückstand von Haushalten unterhalb der Armutsgrenze ist gegenüber dem Einkommensmedian schon vor Corona um ein Drittel gegenüber dem Jahr 2010 gewachsen. Auch die Ungleichheit der Einkommen insgesamt hat einen neuen Höchststand erreicht. Zu diesen Ergebnissen kommt der WSI-Verteilungsbericht 2022. Er zeigt auch, wie stark dauerhafte Armut die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten verschlechtert. Arme Menschen müssen deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie eine Grundausstattung mit Kleidung oder Schuhen verzichten, sie können seltener angemessen heizen, leben auf kleinerem Wohnraum. Armut geht einher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Herzerkrankungen, Diabetes oder chronische Bronchitis, aber auch mit einem höheren Risiko für Krebs und psychische Störungen. Oft wird der Gang in die Hausarztpraxisaus Angst vor Kosten möglichst lange hinausgeschoben, was sie Situation weiter verschäft.Erwerbsarme Frauen sterben so im Schnitt vier Jahre früher, bei den Männern sind es sogar acht Jahre.

Der Bericht zeigt gleichzeitig auch: Mangelnde Teilnahme führt auch zu einer erhöhten Distanz gegenüber dem System. Lediglich 68 % der Menschen unter der Armutsgrenze halten Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 % finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. Das gilt umso mehr, da in Zeiten hoher Inflation sozialer Abstieg auch denen droht, die sich während des vergangenen Jahrzehnts wenig Sorgen um den eigenen Sozialstatus machen mussten. Wer also bei zunehmender wirtschaftlicher Härte nur an ein höheres Infektionsrisiko in kühleren Wohnräumen denkt, der verkennt die Lage. Mit einem schlechter werdenden Zusammenhalt in der Gesellschaft kann auch eine Verrohung des allgemeinen Umgangs einhergehen, unter der gerade die Personen leiden, die an vorderster Patientenfront für die Gesundheit anderer kämpfen — und das sind in besonderem Maße die engagierten Teams in den Hausarztpraxen.

Infokasten
WSI-VerteilungsberichtInformationen zum Bericht findet man hier: www.wsi.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008464



Autorin
Sabine Mack

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Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (2) Seite 49