Was tun, wenn sich bei Patient:innen mit begrenzter Lebenserwartung die Frage stellt, ob invasive Maßnahmen wie eine künstliche Ernährung gerechtfertigt sind? Der Palliativmediziner Prof. Dr. med. Stephan Sahm, Ketteler Krankenhaus, Offenbach, schilderte auf dem DGIM-Kongress 2022 verschiedene Konstellationen, bei denen es um den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) geht, und ließ das Auditorium abstimmen.

Fall 1: Patient mit Speiseröhrenkarzinom
Ein 42-jähriger Patient hat einen fortgeschrittenen Tumor der Speiseröhre. Er befindet sich in häuslicher Versorgung, eine antitumoröse Therapie war in dieser Situation nicht mehr sinnvoll. Die Speisewege sind obturiert. Seine geschätzte Lebenserwartung beträgt Tage bis wenige Wochen. Der Patient wird zunehmend kachektisch und exsikkiert, eine artifizielle Ernährung lehnt er ab. Für welche Maßnahme würden Sie sich entscheiden:
  1. Der Patient sollte auf die nächste Palliativstation verlegt werden und Infusionen erhalten.
  2. Der Patient gefährdet sich. Eine Betreuer:in sollte bestellt werden, um die Zustimmung zur artifiziellen Ernährung zu erhalten.
  3. Mit dem Betroffenen und den Angehörigen werden Therapieziele erörtert, inklusive einer artifiziellen Ernährung. Die schließlich getroffene Entscheidung wird allen Beteiligten zugänglich gemacht, für erwartbare Symptome werden vorausschauende Maßnahmen festgelegt.
  4. Dem Patienten wird dringend nahegelegt, sich endoskopisch einen Ösophagusstent legen zu lassen.


Die überwältigende Mehrheit entscheidet sich für Antwort 3. Die Therapieziele können natürlich ganz unterschiedlich sein, so Prof. Sahm, und können z. B. darin bestehen, dass der Patient die Hochzeit der Enkeltochter oder die Kommunion des Neffen noch erleben will und man deshalb versucht, über einen Port oder eine PEG die Ernährung sicherzustellen. Darüber muss man gemeinsam mit dem Patienten und den Angehörigen reden. Das Drängen des Patienten in eine Richtung wäre auf
jeden Fall falsch angesichts der ohnehin sehr kurzen Lebenserwartung.

Wir haben in diesem Fall tatsächlich das Gespräch gesucht und kamen zu der gemeinsamen Entscheidung, keinen Stent zu legen. Stattdessen haben wir eine symptomatische Therapie und Begleitung auf unserer Palliativstation und mit ambulanten Hospizdiensten organisiert.

Fall 2: Demente Patientin mit Kachexie
Eine 72-jährige Patientin hat eine sehr weit fortgeschrittene Demenz. Sie verweigert jetzt die Nahrung. Die Lebenserwartung ist unklar. Es entwickelt sich eine zunehmende Kachexie und Exsikkose. Wie würden Sie entscheiden?
  1. Die Patientin sollte auf die nächste Palliativstation/in eine Klinik verlegt werden und Infusionen erhalten.
  2. Die Patientin ist nicht entscheidungsfähig. Ein Betreuer soll bestellt werden, um die Zustimmung zur artifiziellen Ernährung zu erhalten.
  3. Mit Pflegenden, Angehörigen und ggf. Betreuer:innen werden Therapieziele erörtert und auch der zweifelhafte Sinn einer artifiziellen Ernährung diskutiert. Die festgelegte Strategie wird allen Beteiligten mitgeteilt.
  4. Es ist Gefahr im Verzug, unverzügliche Anlage einer PEG.


Auch in diesem Fall waren 87% für Antwort 3, immerhin aber auch 11% für Antwort 2. Bei dem Gespräch zur Erörterung der Therapieziele, in das auch die Hausärzt:in eingebunden sein sollte, geht es hier um die Frage: Was hätte die Patientin gewollt? Gab es frühere diesbezügliche Äußerungen oder Verhaltensweisen, die auf ihren Wunsch schließen lassen, z.B. das Wegschieben von Essen oder bestenfalls eine Patientenverfügung?

Wir wissen, dass bei einer sehr weit fortgeschrittenen Demenz die Lebenserwartung durch die Anlage einer PEG praktisch nicht verlängert wird, erklärte der Referent: "Wir haben daher keine PEG-Sonde gelegt, sondern mit dem Team im Heim besprochen, dass es sich um die Endphase einer lebensbedrohlichen Erkrankung handelt, dass wir den Verlauf akzeptieren und dass wir alles tun bis zur Schnabeltasse. Am Ende waren alle, auch die Angehörigen, damit befriedigt."

Fall 3: Älterer Patient mit unklarer Prognose
Ein 82-jähriger Patient meldet sich und bittet um die Aufnahme auf Ihrer Palliativstation mit dem Ziel, beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) begleitet zu werden. Allerdings sind bei dem Patienten keine progredienten, lebenslimitierenden Erkrankungen bekannt. Was machen Sie?
  1. Sie weisen das Ansinnen zurück und beenden das Gespräch.
  2. Sie bieten einen Gesprächstermin an, versuchen Hintergründe und mögliche Ressourcen der Lebensbewältigung zu klären, bieten Unterstützung an, lehnen aber eine Aufnahme ab.
  3. Sie bieten einen Gesprächstermin an, versuchen Hintergründe und mögliche Ressourcen der Lebensbewältigung zu klären, bieten Unterstützung an, vereinbaren einen stationären Aufnahmetermin zur symptomatischen Begleitung eines FVNF nach Wunsch.
  4. Sie vermuten akute Suizidalität und Eigengefährdung, veranlassen daher eine psychiatrische Untersuchung ggf. auch gegen den Willen der Person.


Hier entschieden sich 79% des Auditoriums für Antwort 2, 17% für Antwort 3 und 4% für Antwort 4. Wenn es sich in einem solchen Fall um einen Patienten handelt, der 2 Jahre in einem Heim gelebt hat und dann eines Morgens verkündet: "Ich esse und trinke nichts mehr", wäre es unmenschlich, diesen Patienten in eine Klinik oder ein Hospiz zu verlegen, weil die Pflege ihn nicht begleiten möchte. Es besteht auch in dieser Situation eine pflegerische Verantwortung, Symptome zu lindern. Auch wenn man den Wunsch des Patienten akzeptiert, bedeutet dies keine Assistenz zum Suizid, betonte Prof. Sahm. Anders sieht es aus, wenn eine Palliativstation mit der Begleitung bei FVNF Reklame machen würde, sozusagen als "elegante Art des Ausstiegs". In dem Fall würde man eine suizidale Intention unterstützen und verstärken, was gegen ärztliche Ethik spricht und diese Information zu einem "unmoralischen Angebot" macht.

Verschiedene Konstellationen des FVNF

Fall Nr. 1 wäre der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit bei terminaler Krankheitslage. Eine weit fortgeschrittene Erkrankung geht immer mit dem Verlust von Hunger- und Durstgefühl einher. Wenn jemand sagt, dass er nicht möchte, dass dieser Verlust mit eingreifenden Maßnahmen überwunden wird, ist das ein Behandlungsverzicht, aber keine suizidale Intention. Diese Entscheidung haben wir zu respektieren, so Prof. Sahm.

Die zweite Situation, die oft in den Heimen stattfindet, ist der FVNF in sehr hohem Alter, aber ohne terminale Erkrankung. Man kann dann oft gar nicht unterscheiden, ob es ein Versiegen der Bedürfnisse ist, das mit dem hohen Alter einhergeht, oder eine Willensentscheidung mit suizidaler Intention.

Eine dritte Konstellation ist der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit bei kognitiver Einschränkung. Wir wissen, dass Menschen mit Demenz weniger essen und trinken. Das gehört zum Wesen dieser Erkrankung. Es stellt sich die Frage, ob wir diesen Verlauf interventionell überwinden sollten. Zumindest in weit fortgeschrittenen Stadien besteht auch international Einigkeit darüber, dass eine künstliche Ernährung keinesfalls zu erzwingen sei.

Die vierte, eher seltene Konstellation ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ohne psychische oder körperliche Beeinträchtigung. In dieser Gruppe gibt es Menschen mit hoher suizidaler Motivation. Hier gilt es, eine differenzierte Haltung dazu zu gewinnen.

Fragen aus der Praxis

Im Auditorium waren offenbar viele Kolleg:innen schon konfrontiert mit ähnlichen Situationen. Ein Kollege wollte wissen, wie man sich verhalten soll, wenn eine exsikkierte Patient:in mit einer Tumorerkrankung eingewiesen wird, von der keine Patientenverfügung vorliegt und die nicht mehr in der Lage ist, sich zu äußern. "Wenn Sie keine Möglichkeit haben, akut ihren mutmaßlichen Willen zu klären, müssen Sie handeln. Wir Ärzte sollten das Gebot, Leben zu erhalten, nicht leichtfertig aufgeben", war die Antwort von Prof. Sahm. Solche Situationen könne man aber vermeiden, indem man beizeiten ein "Advanced Care Planning" mit den Heimen oder mit den Angehörigen anstößt.

"Wir erleben oft den Fall", wandte ein anderer Kollege ein, "dass es zwar eine Patientenverfügung gibt, dass aber bei einer plötzlichen Verschlechterung dennoch der Notarzt gerufen wird, weil die Familie nicht die Verantwortung übernehmen möchte und sich überfordert fühlt. Der Patient kommt dann letztlich doch auf eine Intensivstation." Auch dem kann man vorbeugen, so Prof. Sahm: "Wir haben einen einheitlichen Vordruck einer Patientenverfügung entwickelt, der in Plastik eingeschweißt am Kühlschrank hängt und dem Notarzt gezeigt werden kann."

"Darf man denn überhaupt bei einer dementen Patientin ohne Betreuer und ohne Patientenverfügung als Arzt entscheiden, ob invasive Maßnahmen durchgeführt werden sollen? Muss man nicht zuerst einen Betreuer bestellen?", lautete eine weitere Frage. Antwort: "Wenn keine Indikation zu invasiven Maßnahmen besteht, brauchen Sie keinen Betreuer. Eine Einwilligung brauchen wir nur für Maßnahmen, für die es eine Indikation gibt."

Und was tun, wenn bei einer dementen Patient:in die Angehörigen unbedingt die Anlage einer PEG wünschen, obwohl es eine nicht indizierte Maßnahme wäre? "Reden Sie in diesem Fall mit den Angehörigen und erklären Sie ihnen Ihre Einschätzung. Wenn Sie sagen, dass sich damit das Sterben verlängern würde und dass der Patient keinen Vorteil davon hat, werden die wenigsten Angehörigen dennoch darauf beharren", erklärte Prof. Sahm.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) am Lebensende ist ein Behandlungsverzicht, keine Suizidintention.
  • Wenn der Patient spürt, dass das Lebensende nahe ist, haben wir Ärzt:innen das zu respektieren.



Autorin
Dr. Vera Seifert



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (9) Seite 14-16