Wegen der Verschärfungen bei der Zulassung von Medizingeräten könnten Innovationen nicht mehr oder verspätet auf den Markt kommen. Welche Folgen hat das bereits in der Hausarztpraxis?

Durch die Verschärfungen bei der Zulassung von Medizingeräten im Rahmen der Medizinprodukteverordnung (MDR) besteht das Risiko, dass wertvolle Innovationen nicht mehr oder verspätet auf den Markt kommen, von denen die Patient:innen profitieren würden. Gleichzeitig könnten bewährte Medizingeräte aus dem Angebot verschwinden, wenn Zertifikate auslaufen. Welche Folgen hat das in der Hausarztpraxis?

Interview

Der Allgemeinmediziner und Diabetologe Dr. Hansjörg Mühlen ist in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis in Duisburg tätig. Wir sprachen mit ihm über seine Erfahrungen mit dem Thema Medizingerätezulassung und die Auswirkungen der Verschärfungen der MDR auf Ärzteschaft sowie Patient:innen.

doctors|today: Verursachen die Verschärfungen bereits Probleme? Sind Patient:innen, die von Innovationen stark profitieren, besonders betroffen?

Dr. Hansjörg Mühlen (HM): "Eine Schwierigkeit, die sich in der Praxis bereits jetzt zeigt, liegt darin begründet, dass bei Nachfolgegeräten, die eine Weiterentwicklung mit sich bringen, jedes Mal eine Zulassung beantragt werden muss. Ein gutes Beispiel ist der Dexcom 6: Das rtCGM-System misst Glukose kontinuierlich und zuverlässig und ist daher ein wichtiges Werkzeug für Patient:innen mit Diabetes. Nachfolger wird der Dexcom G7 sein, ein deutlich kleineres System, das nicht mehr aus getrenntem Sensor und Transmitter besteht, sondern aus einem Teil. Das neue System ist seit Mitte September verfügbar. Aber diejenigen Diabetiker:innen, die den Dexcom 6 mit einer Insulinpumpe als automatisiertes Insulinabgabesystem (AiD = automatic insulin delivery) kombiniert haben, werden auf die Nutzung des Dexcom 7 noch deutlich länger warten. Denn für die Kombination mit einer Insulinpumpe ist dann erneut eine eigene Zulassung notwendig, obwohl die Pumpe Glukosedaten eines zugelassenen Systems bekommen und verarbeiten würde. Von daher werden die technischen Entwicklungen den Zulassungsverfahren immer deutlicher voraus sein – und die Entwicklungen nehmen ja heute eher Fahrt auf, als dass sie langsamer werden. Und das gilt insbesondere für den Bereich Diabetes, der stark von technischen Innovationen profitiert."

doctors|today: Werden diese Probleme von den zulassenden Stellen nicht erkannt?

HM: "Die Erfahrung lehrt uns Ärzt:innen leider, dass den zuständigen Personen in den Zulassungsbehörden das Schicksal der Patient:innen meist egal ist. Denn hinter jedem Gerät, hinter jeder Zulassung stecken auch Menschenschicksale! Zum Beispiel Menschen mit Diabetes, die auf neue Geräte warten und denen wir damit etwas Gutes für ihre Gesundheit tun können. Manche Prozesse sind leider sehr träge. Zum Teil liegt diese Trägheit auch bei der Industrie. Ich saß z. B. vor rund zehn Jahren in einem Advisory-Board, bei dem eine neue Insulinpumpe vorgestellt wurde, die eine echte Innovation darstellen würde. Diese ist bis heute nicht auf dem Markt."

doctors|today: Was könnte noch ursächlich sein?

HM: "Ein anderes Thema, das für erhebliche Verzögerungen sorgt, ist die aufwendige Evaluierung. Warum muss zum Beispiel jedes Schulungsprogramm wieder evaluiert werden? Es gibt in Fachkreisen keinerlei Diskussion darüber, dass ein Schulungsprogramm, das das Wissen der betroffenen Patient:innen vermehrt, einen positiven Effekt auf die Erkrankung hat (z. B. Schulungsprogramm Spectrum). Gleichzeitig gibt es für uns keinen Ansprechpartner bei den Krankenkassen oder der Politik, mit dem man sich von Arztseite über diese Problematiken unterhalten könnte. Es gibt keine zentrale Entscheidungsstelle. Der Bund schafft Rahmenbedingungen, die auf Länderebene ausgestaltet werden, wobei dann jede Krankenkasse eigene Regularien entwirft. Man sieht einen Trend bei vielen Entscheidern, dass keine Entscheidungen mehr getroffen werden, ohne dass die Problematik weitreichend evaluiert wurde. Leider lässt sich nicht alles evaluieren oder oft dauern die Evaluationen so lange, dass sich das Problem schon gelöst hat oder so verändert ist, dass die Evaluation keine Bedeutung mehr hat. Dies ist ein generelles Problem in der Gesellschaft und besonders im Gesundheitswesen. Die Regelung von Medizinprodukten ist da nur ein Teilaspekt – quasi die Spitze vom Eisberg."

Infokasten: MDR (Medical Device Regulation): Das steckt dahinter
Die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte ist am 25. Mai 2017 in Kraft getreten. Sie gilt in den Mitgliedstaaten der EU unmittelbar und muss nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Übergangsfristen laufen noch bis Mai 2024. Aufgrund der mit einer Zulassung verbundenen Zeiträume ist das Thema für die Medizingerätehersteller bereits heute essenziell – und damit auch für die Ärzt:innen und ihre Patient:innen. Ziel der Neuregelung ist es, die Sicherheit von Medizinprodukten über den gesamten Lebenszyklus weiter zu optimieren. Damit sind u. a. eine Neuklassifizierung bestimmter Produkte sowie stärkere und gleichzeitig umfangreichere Vorgaben für den Inhalt der technischen Dokumentation und die klinische Bewertung verbunden. Insgesamt erhalten die Überwachung von Produkten sowie die eindeutige Produktidentifikation nach dem Inverkehrbringen eine größere Bedeutung. Dabei wurde die Anforderung an Medizinproduktehersteller und alle anderen Beteiligten verschärft, was u. a. zu deutlich längeren und aufwendigeren Zertifizierungsverfahren führt. Ähnliche oder analoge Veränderungen treffen auf in vitro Diagnostica (IVD) zu.

Das Interview führte Sabine Mack


Literatur:
IHK-Ratgeber. Die neue Medizinprodukteverordnung (MDR): http://www.ihk-muenchen.de/de/Service/Produktsicherheit/Medizinprodukte/
Getting ready for the new regulations, Europäische Commission: http://health.ec.europa.eu/medical-devices-new-regulations/getting-ready-new-regulations_en
Übersicht zum nationalen Medizinprodukterecht, Kompetenzzentrum Hygiene und Medizinprodukte: http://www.hygiene-medizinprodukte.de/fileadmin/user_upload/dokumente/Aktuelles/2021-07-01_%C3%9Cbersicht_nationales_MP-Recht.pdf


Interviewpartner

© zukunftsboard digitalisierung/Ludwig Niethammer
Dr. Hansjörg Mühlen

Allgemeinmediziner und Diabetologe
Diabetologische Schwerpunktpraxis in Duisburg

Stellungnahme

Dr. Hilke Sudergat, strategisch beratende QM-Managerin & im Vorstand von InnoNet HealthEconomy e.V., Fokusgruppenleitung InnoNet Sprint Medizinprodukte

"Wir sehen, dass sich einzelne Hersteller von Medizinprodukten vor dem Hintergrund der Aufwände und Unsicherheiten dafür entscheiden, möglichst nur noch Klasse-I-Produkte zu entwickeln und auf die Entwicklung höherer Produkt-Risikoklassen zu verzichten. Innovative Produktideen, die für die jeweiligen Patient:innen von großem Nutzen wären, werden so gar nicht erst entwickelt bzw. die Entwicklung wird eingestellt. Dies betrifft nicht nur Nischen- oder Spezialprodukte für kleine Patientengruppen.

Bei bereits eingeführten Medizinprodukten laufen zahlreiche Zertifikate ab, z. Bsp., weil sie durch den notwendig gewordenen Wechsel zu einer neuen sogenannten "Benannten Stelle" und aufgrund der dort bestehenden Wartezeiten nicht rechtzeitig neuzertifiziert werden können. In der Folge erleben Ärzteschaft, Kliniken, Versorger und v.a. die betroffenen Patient:innen Versorgungslücken und nicht mehr verfügbare Produkte. So tragen auch sie letztendlich die Last in einem Prozess, der fernab von bislang gut etablierten Routinen, Verständnis und Erfahrungen die bestehende Landschaft "Benannter Stellen" demontiert und "auf der grünen Wiese" neu etabliert. Die Folge: Engpässe und unglaublich hohe Arbeitslast bei Herstellern und den verfügbaren "Benannten Stellen".

Das Zertifizierungsverfahren dauert aus Sicht unserer Mitgliedsunternehmen zum heutigen Stand viel zu lange (Antwortzeiten, Durchlaufzeiten, Zertifikatserstellung, Gesamtdauer) und scheint manchem dadurch zusätzlich limitierend, dass der Zugang zu der gewünschten "Benannten Stelle" nicht gegeben ist. Die Suche nach einer "Benannten Stelle" gestaltet sich unter Umständen langwierig. Beide Zeitfaktoren strapazieren in besonders hohem Maße die Mittel von jungen und kleinen KMU. Für die Umsetzung der MDR wäre es rückblickend wünschenswert gewesen, Voraussetzungen wie bspw. die benötigten Kapazitäten für die "Benannten Stellen" zuerst zu etablieren. Die stufenweise Umsetzung der MDR im klassischen Meilenstein-Denken von Projekten hätte hier viel Unruhe, Unsicherheit und Störungen verhindert.

Mit denjenigen Herstellern im Sinn, die ihre Hausaufgaben allen weiteren aktuellen Widrigkeiten zum Trotz erledigt haben und die bestens für den Zertifizierungsprozess vorbereitet sind, entsteht dann der Eindruck, dass die aktuelle Situation den unterbrechungsfreien Marktzugang zumindest sehr erschwert. Die möglichen Folgen sind bereits jetzt im Praxisalltag zu spüren. Sie könnten sich in naher Zukunft noch erheblich ausweiten. Deswegen machen wir uns als InnoNet HealthEconomy e. V. für die Gesundheitswirtschaft Rheinland-Pfalz stark für unsere Medizintechnikbranche – von der die Gesundheitswirtschaft an sich, aber letzten Endes vor allem Mediziner:innen und Patient:innen profitieren."


© privat
Dr. Hilke Sudergat


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Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (10) Seite 64-66