Übergewicht und Adipositas stellen das Gesundheitswesen vor große Herausforderungen. Hausärzt:innen befinden sich in einer idealen Position, um einen Beitrag zur Adipositasprävention zu leisten, Patient:innen rechtzeitig zu diagnostizieren und therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Welche Strategien und Ansätze bei der hausärztlichen Betreuung bzw. Therapie von Adipositaspatient:innen verfolgt werden, zeigt eine große Interviewstudie.
Betrachtet man aktuelle Zahlen für Deutschland, sind 53 % der Erwachsenen übergewichtig (BMI 25–29,9 kg/m2) und davon 17 % adipös (BMI >30 kg/m2) [1, 3]. Und das hat Folgen: Adipositas ist bei der Entwicklung von rund 80 % der auftretenden Fälle von Typ-2-Diabetes, bei ca. 35 % der ischämischen Herzerkrankungen und ca. 55 % der hypertensiven Erkrankungen wesentlich beteiligt [4]. Zudem belastet Übergewicht den Bewegungsapparat, begünstigt Atemwegserkrankungen, die Entstehung von Gallensteinen oder einer Fettleber [1]. Auswirkungen auf die Psyche Betroffener sind nicht zu unterschätzen [2, 5].
Hausärzt:innen sind mit ihren Patient:innen vertraut, sodass sie die langfristige Therapiebereitschaft und -motivation positiv beeinflussen können [6]. Gerade die hausärztliche Versorgung gilt deshalb als gut geeignet, um einen Beitrag zur Adipositasprävention zu leisten. Abgesehen von der Beratungs- und Unterstützungstätigkeit stehen Hausärzt:innen verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung, die dem Ziel der Gewichtsreduktion durch eine Veränderung des Lebensstils dienen. Hierzu zählen diätetische und bewegungstherapeutische Beratung, therapeutische Interventionen oder auch die Vermittlung zu externen Hilfsangeboten.
Doch welche Einstellungen haben Hausärzt:innen zum Thema Adipositasmanagement und welchen Herausforderungen sehen sie sich gegenüber? Diesen Fragen wollte die Abteilung Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Mainz in einer Interviewstudie mit 36 Hausärzt:innen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland auf den Grund gehen [X]. Im Zuge der Auswertung konnten vier voneinander unterscheidbare Typen von Ärzt:innen gefunden werden:
Die Resignierten
Der erste Typus fällt durch eine negative Sichtweise auf das hausärztliche Adipositasmanagement, betroffene Patient:innen, die Bereitschaft zur Versorgung und die Selbstwirksamkeitsannahmen auf. Die Befragten berichten davon, dass sie mangelnde Compliance und zahlreiche Rückschläge bei therapeutischen Interventionen beobachten mussten, die bei Patient:innen zu ernsthaften Langzeitschäden und verstärkten Mortalitätsrisiken geführt haben. Als Resultat jahrelanger Frustrationserfahrungen wird in dieser Gruppe ein Zweifel formuliert, ob Hausärzt:innen in der Lage sind, Adipositasbetroffene effektiv zu managen. Vielmehr sollten hier Fachärzt:innen und Spezialisten agieren, möglicherweise unter Einsatz medikamentöser, psychotherapeutischer oder ggf. chirurgischer Lösungen, die angesichts mangelnder Veränderungsbereitschaft aufseiten der Patient:innen als letzte Option gesehen werden.
Die anderen drei Typen zeigen einen aufgeschlossenen und aktiven Umgang mit Adipositas, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Hier wird die Hausarztpraxis als wichtige Instanz betrachtet, um Patient:innen im Prozess der Gewichtsabnahme zu begleiten.
- Adipositas als Persönlichkeitsproblem
- Erlebte Wirkungslosigkeit des hausärztlichen Rats
- Tendenz zur Delegation der Patienten an Fachärzte
Die Trainer
Der zweite Typus umfasst Hausärzt:innen, die Adipositas primär als eine Kombination aus Lebensumständen und Veranlagung betrachten. Sie nehmen die rechtzeitige Diagnostik ernst und legen gesonderten Wert darauf, Patient:innen an ein strukturiertes Bewegungs- und Ernährungsprogramm heranzuführen. Im Kontext dieses Vorgehens berichten sie von Therapieerfolgen. Bei diesen Hausärzt:innen ist bemerkenswert, dass sie in ein kommunales Netzwerk der Bewegungs- und Gesundheitsförderung integriert sind und über gut funktionierende informelle Kontakte vor Ort verfügen. Allem voran gilt dies für die Zusammenarbeit mit Fitnessstudios, Selbsthilfegruppen, Ernährungs- und Gesundheitsberater:innen. Die Möglichkeit, Patient:innen unkompliziert an verlässliche Sport- und Gesundheitsangebote zu vermitteln, wird als essenziell erachtet, um Adipositasbetroffene hinreichend unterstützen zu können. Hierbei können aus Sicht der Befragten auch Gesundheits-Apps zur Motivation bzw. Tagesregulation hilfreich sein. Der Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Verfahren wird "bis auf absolute Notfälle" vehement abgelehnt, da nicht zuletzt Jo-Jo-Effekte befürchtet werden.
- Adipositas als Problem der Lebensumstände
- Bewegungs- und Ernährungsprogramm mit engmaschiger Betreuung
- Kooperation mit kommunalen Akteuren der Bewegungsförderung
Die Motivatoren
Auch der dritte Typus schließt derartige Lösungen weitgehend aus. Anders als die ‚Trainer‘ sehen die Motivatoren ihre vordringliche Aufgabe darin, beim Patienten durch intensive psychosoziale Unterstützung, Motivation und Bestärkung die Erkenntnis reifen zu lassen, dass es erstrebenswert ist, seinen Lebensstil zu verändern. Den Befragten ist eine sensible Kommunikation und eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung besonders wichtig. Zentral sei es, diesen Patient:innen ausreichend Beratungszeit einzuräumen und auch bei therapeutischen Rückschlägen immer wieder das Gespräch zu suchen. Einige der Befragten in dieser Gruppe haben eine Zusatzweiterbildung Psychotherapie bzw. Psychoanalyse absolviert und halten derlei Kenntnisse für ein längerfristig erfolgreiches Adipositasmanagement für wertvoll. Ähnlich wie die ‚Trainer‘, die im sportlichen Bereich kommunal verankert sind, lässt sich auch hier eine Vernetzung beobachten, allerdings mit psychosozialen Betreuungs- und Unterstützungsangeboten.
- Adipositas als Problem der Lebensumstände
- Psychosoziale Unterstützung, Motivation und Bestärkung des Patienten
- Vernetzung mit psychosozialen Hilfsangeboten
Die Präventionsorientierten
Der vierte Typus erscheint als Variation der beiden vorangegangenen. Zwar werden Adipositas-Patient:innen auch in dieser Gruppe aktiv betreut und therapeutische Maßnahmen initiiert, allerdings liegt ihr Fokus auf der Prävention. So komme es darauf an, vorher anzusetzen und die Entstehung starken Übergewichts "möglichst systematisch" zu verhindern, indem frühzeitig auf Risikofaktoren hingewiesen und die Voraussetzungen für einen gesunden Lebensstil geschaffen werden. Befragte in dieser Gruppe nehmen insbesondere den Gesundheits-Check-up als "Frühwarnsystem" sehr ernst und haben sich teilweise ernährungsmedizinisch fortgebildet; sie legen großen Wert auf einen regelmäßigen Patientenkontakt und eine konsequente Aufklärung. Wenn nötig wird auch das Praxispersonal unterstützend involviert.
- Engagement im Bereich der präventiven Gesundheitsförderung
- Vermeidung von Fettleibigkeit durch frühzeitige Aufklärung des Patienten
- Check-ups und kontinuierliche Betreuung
Strukturen sind noch ausbaufähig
Über alle Cluster hinweg räumen die Befragten ein, dass das erfolgreiche Management von Adipositaspatient:innen sich oft zeitintensiv darstelle, viel ärztliches Engagement und bei therapeutischen Fehlschlägen Neuanläufe erfordere. Moniert wird ein ausgeprägter Mangel an Strukturen und Versorgungsakteuren, die Hausärzt:innen bei der Adipositasprävention und beim therapeutischen Management unterstützen können. Wiederkehrend wird konstatiert, die Hausärzt:in sei bei der Betreuung und Behandlung von adipösen Patient:innen oftmals "ziemlich alleingelassen"; besonders in ländlichen Umgebungen fehle es an niedrigschwelligen Beratungs- und Motivationsangeboten. Zudem wurde von einigen Interviewten gefordert, angesichts der gestiegenen Zahl übergewichtiger Patient:innen auch ein Disease-Management-Programm Adipositas einzuführen, das ein Einstieg in eine "stärkere Institutionalisierung des Krankheitsbilds" sei.
Insgesamt positive und aktive Rolle der Hausärzt:innen
Die Interviewergebnisse belegen, dass – trotz zuweilen auch skeptischer Positionen – bei der Mehrheit der befragten Hausärzt:innen eine hohe Bereitschaft und Sensibilität vorhanden ist, übergewichtige und adipöse Patient:innen zu betreuen und therapeutisch zu begleiten.
Insgesamt fügen sich die Ergebnisse in die bestehende Studienlage, der zufolge Adipositas unter Ärzt:innen ein durchaus polarisierendes Krankheitsbild ist und je nach Einstellung einen unterschiedlichen Grad an Betreuungs- und Versorgungsbereitschaft nach sich zieht [8–17]. Zudem reflektieren die Resultate defizitäre Strukturen in der Adipositasversorgung sowie eine bislang nicht ausreichende Finanzierung von Ernährungs-, Bewegungs- und medikamentösen Therapien durch die Krankenkassen [18, 19]. Derzeit fehlt es der Behandlung von Adipositas an strukturierten und zugleich individualisierbaren Therapiekonzepten, in denen Patient:innen vom Hausarzt kontinuierlich im Prozess ihrer Lebensstiländerung unterstützt werden können [8, 9, 16, 18]. Die Entwicklung strukturierter Versorgungsprogramme zum Adipositasmanagement, die auf die hausärztliche Versorgungsrealität zugeschnitten sind, erscheint daher wichtig.
Hausärzt:innen sollten insgesamt in ihrer Vermittlerrolle bestärkt werden, indem sie Adipositaspatient:innen je nach Bedarf in ein Netzwerk weiterer Hilfen einbinden. Eine Diagnose Adipositas sollte insofern mit konkreten Handlungsempfehlungen verbunden werden (Ernährung, Bewegung). Hier geben bestehende Leitlinien weitere Hilfestellung und Orientierung [22]. Fast alle gesetzlichen Krankenkassen bieten Präventionsprogramme an; Ähnliches gilt für Gesundheitsämter, die oftmals einen guten Überblick über Kurs- und Beratungsangebote im Landkreis haben. Auch kann bei problematischem Gewichtsverlauf eine Ernährungsberatung auf Muster 16 beim Diätassistenten verordnet werden. Ferner können gezielte Überweisungen sinnvoll sein, etwa zum Psychotherapeuten bei psychischer Grunderkrankung oder Depression oder zum Endokrinologen zwecks Abklärung hormoneller Ursachen [25, 26].

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (7) Seite 28-30