Bei der Diagnose und Therapie akuter und chronischer Rückenschmerzen gibt es offene Fragen, die in diesem Artikel diskutiert werden sollen. Der Beitrag möchte zum kritischen Nachdenken und zur Diskussion anregen, um vielleicht eine individuell für die einzelne Patient:in geeignete Diagnostik und Therapie zu finden. Betrachtet werden soll der Rückenschmerz; nicht berücksichtigt werden radikuläre Beschwerden, wie sie z. B. durch Nervenwurzelkompression bei einem Bandscheibenvorfall vorkommen, oder auch eine Claudicatio-Symptomatik bei Spinalkanalstenose.
Die Häufigkeit nichtspezifischer Rückenschmerzen, bei denen sich kein eindeutiger Hinweis auf eine spezifische Ursache finden lässt, wird oft mit > 80 % angegeben [1, 2]. Oft handelt es sich hierbei um eine Ausschlussdiagnose: Liegt keine der in den "Red Flags" definierten ernsthaften Erkrankungen vor, wird von nichtspezifischem Schmerz gesprochen. Hierbei wird aber nicht berücksichtigt, dass es Schmerzursachen geben kann, die in den "Red Flags" nicht genannt werden.
Häufigkeit neu bewerten!
Alle Strukturen im Körper, die mit Nozizeptoren versorgt sind, kommen grundsätzlich als Schmerzursache infrage. Auch an der Wirbelsäule gibt es viele solcher Strukturen, wie z. B. Bänder, Gelenke und Muskeln, die auch an anderen Stellen im menschlichen Körper Schmerzen erzeugen. Sucht man primäre Quellen für die Häufigkeit nichtspezifischer Rückenschmerzen, so wird häufig eine Arbeit von Deyo et al. [3] zitiert. Letztlich scheint der Ursprung der Häufigkeit aber auf eine Studie eines Londoner Hausarztes zurückzugehen, der Daten aus den 60er-Jahren ausgewertet hat [4]. Vielleicht ist es an der Zeit, neue Konzepte zur Pathogenese und auch die seitdem entstandenen Möglichkeiten der Bildgebung zu berücksichtigen und die Häufigkeit nichtspezifischer Rückenschmerzen neu zu bewerten.
Inzwischen wird nämlich zunehmend gefordert, den "diagnostischen Nihilismus" bezüglich Rückenschmerzen zu beenden [5]. Auch in Deutschland existiert seit Ende 2017 eine Leitlinie "spezifischer Kreuzschmerz" [6]. Und tatsächlich lassen sich bei konsequenter Diagnostik bei den meisten Patient:innen spezifische Ursachen herausarbeiten [7].
Bildgebung bei akuten und chronischen Rückenschmerzen
Durch die zunehmende Verbreitung von CT und insbesondere MRT ist eine Vielzahl von Pathologien an der Wirbelsäule sichtbar geworden. Es war jedoch ein langer Weg zu lernen, dass man Rückenschmerzen nicht sehen kann. Degenerative Veränderungen sind im MRT schon früh zu erkennen und sind oft keine Schmerzquelle, wie eine aktuelle Studie an asymptomatischen Kandidat:innen für die US Air Force im Alter von 18 – 22 Jahren zeigen konnte [8]: Bei 270 der 350 Patient:innen (77 %) fanden sich pathologische Befunde im MRT. Es gibt daher auch Leitlinien, die bei akuten und chronischen Lumbalgien eine Bildgebung nicht empfehlen [9, 10]. Allerdings ist ein MRT bei Verdacht auf eine systemische Erkrankung (z. B. Osteoporose, Metastase, Infektionen), bei radikulärer Symptomatik – insbesondere mit neurologischen Defiziten – und zur Op.-Planung wichtig.
Zu entscheiden, welche Patient:innen mit chronischen Lumbalgien vielleicht doch eine Bildgebung benötigen, obwohl keine "Red Flags" vorliegen und obwohl kein neurologisches Defizit besteht, kann eine Herausforderung sein, wie das nebenstehende Patientenbeispiel 1 zeigt, in dem eine sehr
seltene Ursache für einen chronischen Rückenschmerz beschrieben wird.
Häufige Ursachen spezifischer Rückenschmerzen
Viel häufiger sind Schmerzen, die von den Gelenken (Facettengelenke, Iliosakralgelenk [ISG]) und von den Bandscheiben ausgehen [11]. Die Abbildung 2 zeigt, dass die Häufigkeit der unterschiedlichen Ursachen vom Alter der Patient:in abhängt.
Es ist nachvollziehbar, dass degenerative Veränderungen, von denen auch die Facettengelenke und das ISG betroffen sind, ab dem mittleren Alter zunehmen. Die Facettengelenke sind ab dem 55. Lebensjahr die häufigste Ursache für Rückenschmerzen. Der Aufbau der Facettengelenke ist vergleichbar mit dem anderer synovialer Gelenke und daher können sie auch wie ein Knie- oder Fingergelenk Schmerzursache sein. Es gibt sogar einen Gelenkkörper (Meniskoid), der beim Aufrichten aus Vorbeugung mit Rotation im Recessus lateralis einklemmen kann und dann durch Dehnung der Gelenkkapsel einen akuten, immobilisierenden Schmerz ("Hexenschuss") hervorruft.
Bei den "sonstigen Ursachen" in Abbildung 2 handelt es sich z. B. um osteoporotische Frakturen, den M. Baastrup, aber auch Wirbelsäulenmetastasen.
Überraschend ist sicherlich die Häufigkeit eines discogenen Schmerzes bei jungen Erwachsenen. Hierbei handelt es sich um eine schmerzhafte Strukturveränderung der Bandscheibe, die nicht mit einem Bandscheibenvorfall, aber auch nicht mit einer Osteochondrose gleichgesetzt werden darf. Typischerweise fehlt die Kompression einer Nervenwurzel und somit auch die radikuläre Symptomatik. Eher kommt es zu reinen Lumbalgien.
Invasive Diagnostik
Die Anamnese und die klinische Untersuchung liefern uns wertvolle Hinweise auf die Art der Erkrankung und auch die Lokalisation der Schmerzen. Diese Hinweise sind jedoch, wie auch die Bildgebung, häufig nicht pathognomonisch für eine bestimmte Schmerzursache wie z. B. Facettengelenkschmerz oder discogener Schmerz [12]. In den letzten Jahren gab es aber deutliche Fortschritte in Bezug auf die Evidenz diagnostischer und therapeutischer Interventionen an der Wirbelsäule [13]. Werden diese Techniken konsequent angewendet, so lässt sich bei einem Großteil der Patient:innen eine Schmerzursache identifizieren [13].
Angewendet werden z. B. diagnostische Blockaden der Nerven, die die Facettengelenke versorgen (Medial Branch Block), Injektionen in das ISG und die diagnostische Provokationsdiscographie. Problematisch ist, dass alle diese Verfahren sehr gezielt und spezifisch und daher unter Bildgebung (Durchleuchtung, Ultraschall) angewendet werden müssen. Somit sind diese diagnostischen Verfahren aufwendig und an bestimmte spezialisierte Zentren gebunden. Es ist sicherlich nicht sinnvoll und notwendig, jeden Rückenschmerz auf diese Art und Weise abzuklären. Wenn aber eine invasive Diagnostik angestrebt wird, sollte diese konsequent und geplant durchgeführt werden, um eine Überdiagnostik zu vermeiden. Auch wenn sich dann bei den meisten Patient:innen eine spezifische Ursache finden lässt, muss immer auch berücksichtigt werden, dass es Patient:innen mit unspezifischem Rückenschmerz gibt, bei denen auf keinen Fall zu viel Diagnostik durchgeführt werden darf.
Das Patientenbeispiel 2 zeigt einen Fall, in dem invasive Diagnostik nicht konsequent durchgeführt wurde. Die Blockade des ISG ergab keine Besserung, dennoch wurde die Diagnose Sakroiliitis gestellt. Die häufigste Schmerzursache in dieser Altersgruppe sind die Facettengelenke (Abb. 2). Diese wurden aber nicht untersucht. Es macht Sinn, für die individuelle Patient:in entsprechend ihrem Alter, der Anamnese, der Untersuchung und auch unter Einbeziehung der Bildgebung einen diagnostischen Plan auszuarbeiten, diesen konsequent zu verfolgen, aber dann auch die weitere Diagnostik zu beenden, wenn sich keine neuen Aspekte ergeben haben.
Therapieoptionen
Eine spezifische Schmerzursache zu diagnostizieren, macht natürlich insbesondere dann Sinn, wenn auch eine gezielte Therapie möglich ist.
Wurde ein Facettengelenkschmerz durch kontrollierte, röntgengeführte Medial Branch Blocks gesichert, bei denen gezielt der das Gelenk versorgende Nerv durch Lokalanästhesie vorübergehend ausgeschaltet wird, so steht mit der Radiofrequenz-Denervation dieses Nerven eine gezielte Therapie zur Verfügung. Bei korrekter Indikation kann eine Schmerzfreiheit nach sechs Monaten bei knapp 60 % der Patient:innen erreicht werden. Die mittlere Wirkdauer der ersten Denervation beträgt ca. 15 Monate, eine Wiederholung ist möglich [14]. Die Denervation der Facettengelenke wird in der Leitlinie "Spezifischer Kreuzschmerz" [6] empfohlen.
Schwieriger ist die Therapie des discogenen Schmerzes. Unterschiedliche Substanzen wurden in die Bandscheiben injiziert und verschiedenste chirurgische Therapieansätze existieren (IDET, Nucleoplasty bis hin zur Spondylodese). Allerdings gibt es keine Therapie mit ausreichend guter Evidenz für den discogenen Schmerz. Dennoch kann es sinnvoll sein, einen discogenen Schmerz identifiziert zu haben, da somit keine weitere Diagnostik bezüglich der Schmerzursache erfolgen muss und auch eine psychosomatische Ursache ausgeschlossen ist (negativer therapeutischer Nutzen).
Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass natürlich auch Chronifizierungsprozesse eine große Rolle spielen, für die multimodale Therapiekonzepte besser sein können. Interventionelle Diagnostik und Therapie sowie multimodale psychosoziale Konzepte sollten sich idealerweise ergänzen.|
- Möglicherweise sind spezifische Rückenschmerzen häufiger als bisher angenommen und die Häufigkeit nichtspezifischer Rückenschmerzen wird überschätzt.
- Die Ursache spezifischer Rückenschmerzen ist abhängig vom Alter der Patient:in.
- In der bildgebenden Diagnostik lässt sich häufig nicht die Ursache für einen Rückenschmerz erkennen, insbesondere korrelieren degenerative Veränderungen in der Regel nicht mit Schmerzen.
- Anamnese und klinische Untersuchung sind bei einer Patient:in mit Rückenschmerzen wichtig; häufig bedarf es aber invasiver Techniken, um eine spezifische Diagnose zu sichern.
- Eine spezifische Schmerzursache herauszufinden macht Sinn, da für manche Diagnosen gezielte Therapieverfahren mit guter Evidenz vorhanden sind.

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (11) Seite 36-40