Bewegungsarmut, Fehlbelastung, schlechte Körperhaltung: Die Auslöser für Rückenschmerzen sind vielfältig, was auch die Behandlung erschwert. Das Wissen um die pathomorphologischen, somatisch funktionellen, psychosozialen und neurophysiologischen Einflussfaktoren hilft jedoch bei der Einordnung dieser Beschwerden und kann Chronifizierungen verhindern.

KASUISTIK – Unfall mit Folgen
Ein 55-jähriger Patient klagt über Schmerzen im unteren Rücken und Ausstrahlung in das linke Bein. Er hat zudem Schmerzen im Hals-Nacken-Bereich mit Ausstrahlung in den linken Arm sowie ins Gesicht, zudem intermittierende Kopfschmerzen. Es besteht ein Dauerschmerz mit Schmerzstärken von 4 – 10 auf einer numerischen Ratingskala (NRS 0–10.)Der Patient leidet seit circa zehn Jahren an intermittierenden, jedoch nur gering einschränkenden Schmerzen. Vor 16 Monaten exazerbierte der Schmerz. Als Vorgeschichte gibt der Patient an, nicht schuldhaft in einen Autounfall verwickelt gewesen zu sein – beim Unfallgegner verstarb allerdings ein Insasse. Der Patient und seine Ehefrau zogen sich nur leichte Verletzungen zu. Seit dem Unfall ist der Mann arbeitsunfähig.Neben den Schmerzen entwickelte er im Verlauf verschiedene Symptomatiken, u. a. thorakale Schmerzen (Herzkatheter negativ), neurologische Symptome im Sinne eines Apoplex (nachfolgende Diagnostik negativ) und epileptiforme Anfälle (EEG negativ). Es erfolgten wiederholte stationäre Abklärungen.In der Anamnese nennt der Patient Schlafstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung, Ängste und eine gedrückte Stimmung. In der Untersuchungssituation wirkt er angespannt, unruhig und unkonzentriert. Bei der Besprechung von emotionalen Themen beziehungsweise zum Unfallhergang kommt es zum Zittern des rechten Beins und der Hände. In der klinischen Untersuchung ergeben sich keine Hinweise auf relevante Pathomorphologien, die neurologische Untersuchung ist unauffällig. Funktionell bestehen leichte Defizite der Stabilisation und Koordination von Haltung und Bewegung.

Der Patient sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Unfall und seiner Gesundheitssituation und hat nur eingeschränkt Zugang zu seinen Emotionen. Zur Erarbeitung eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts, der weiteren Differenzialdiagnostik und der Erstellung eines weiteren Therapieplans wird der Patient zur stationären multimodalen Schmerztherapie aufgenommen. Initial stehen starke Einschränkungen durch Schmerzen sowie Schmerzexazerbationen, vor allem nach psychotherapeutischen Interventionen, im Vordergrund. So entwickelt der Patient dreimal eine akute abdominelle Symptomatik ohne relevanten somatischen Befund.

Zusammenfassend beruht das Krankheitsbild auf der Konversion von Affekten (Angst, Depression) auf Grundlage einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dies konnte mit dem Patienten erarbeitet und in einen mittel- und langfristigen Therapieplan umgesetzt werden.

Die Chronizität von Rückenschmerzen, also Schmerzen zwischen Occiput und Rima ani, wird am häufigsten nach dem zeitlichen Verlauf definiert. Gemäß der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz [1] sind Rückenschmerzen bis zu sechs Wochen akut, zwischen sechs und zwölf Wochen subakut und darüber hinaus chronisch (vgl. Kasuistik). Zwei oder mehrere Rückenschmerzepisoden im Abstand von sechs oder mehr Monaten gelten als akuter Rückenschmerz. Dieses Vorgehen ist praktisch, aber wegen des rezidivierenden und teils protrahierten Verlaufs der Chronifizierung problematisch (Abb. 1). Schon bei akuten Rückenschmerzen ist deren multidimensionaler Charakter zu berücksichtigen. Pathomorphologische, funktionell somatische, psychosoziale und neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung sind zu beachten.

Pathomorphologische Aspekte

Die Klassifizierung erfolgt in spezifische und nicht- spezifische Rückenschmerzen. Dies geht auf eine Studie von 1992 zurück [2], die zeigte, dass nur 5 – 10 % der Rückenschmerzpatient:innen eine eindeutige, den Schmerzen zuordenbare Pathomorphologie (Fraktur, Malignität, Entzündung etc.) aufwiesen (spezifischer Schmerz). Alle anderen Personen hatten keine eindeutig zuordenbare Pathomorphologie (nicht spezifischer Schmerz).

In der Diagnostik von Rückenschmerzen haben sich die "Red Flags" etabliert (Tabelle 1) [1, 3]. Sie definieren einen dringenden, fachspezifischen Diagnostik- und Therapiebedarf. Daneben können Pathomorphologien den Rückenschmerz mitverursachen bzw. dessen Verlauf beeinflussen. In der klinischen und gegebenenfalls paraklinischen/bildgebenden Einschätzung ist die Bedeutung von Pathomorphologien für den jeweiligen Krankheitszustand einzuschätzen (Abb. 2). Diese können akut abklärungsbedürftig (Red Flags) oder unbedeutend sein, die Funktion beeinflussen, zur Nozizeption führen, aber auch auf beide einwirken. So kann eine Polyneuropathie symptomlos sein, zu (neuropathischen) Schmerzen führen oder durch die Alteration von Haltungs- und Bewegungskoordination (mit)verantwortlich für Rückenschmerzen sein.

Somatisch funktionelle Aspekte

Funktionsstörungen des Bewegungssystems sind eine Ursache für Rückenschmerzen. Sekundäre Funktionsstörungen führen bei unzureichenden Kompensationsmechanismen zu Symptomen (meist Schmerz, Bewegungseinschränkungen, Tabelle 2) [4] und resultieren aus einer Diskrepanz zwischen Belastung und Belastbarkeit. Die gestörten Gewebe/Strukturen sind nicht für die geforderte Belastung ausreichend trainiert/vorbereitet (primäre Störung) oder die Belastung ist zu hoch (z.B. Trauma) [5, 6]. Primäre Funktionsstörungen sind Defizite in der Koordination und muskulären Stabilisation von Haltung und Bewegung, kardiopulmonale und/oder muskuläre Dekonditionierung, vegetative Fehlregulation oder Störungen der neurophysiologischen Schmerzregulation. Auch können psychische Störungen und pathomorphologische Veränderungen primäre Störungen darstellen. Reichen Kompensationsmechanismen nicht aus, werden primäre über die Entwicklung von sekundären Störungen symptomatisch. Das heißt: Nicht nur symptomatische Funktionsstörungen sollte man therapieren, sondern auch relevante primäre Störungen.

Psychosoziale Aspekte

Nozizeptive Reize werden erst im Großhirn durch Wahrnehmung zu Schmerzen. Hier treffen unzählige Reize ein, die meisten bleiben unbewusst. Ob ein nozizeptiver Reiz zum Schmerz wird, hängt von vielen Faktoren ab. Gefühle und Emotionen spielen hierbei eine zentrale Rolle. Auch können sich (unterdrückte) Gefühle und Emotionen in körperliche Symptome (Schmerz) umwandeln (Konversion). Die Erfassung von emotionalen Einflussfaktoren ist schon bei akuten Rückenschmerzen wichtig.

Ein Screening auf emotionale Faktoren kann durch eine kurze Anamnese erfolgen:
  • Auslösefaktoren (Trauma, Trennung, besondere Belastungen u. a.)
  • Stimmung, Antrieb, Grübelneigung, Freude
  • Ängste, Sorgen
  • Empfundener Stress und Druck
  • Psychotherapien oder psychiatrische Therapien in der Vergangenheit

Dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen sind zudem wichtige Prädiktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen, z. B.:
  • Durchhaltestrategien
  • Vermeidung von Belastungen, unbegründete Ängste, Katastrophisieren (z. B. "mein Rücken ist kaputt")
  • Externale Kontrollüberzeugungen, geringe Selbstwirksamkeit (z. B. "ich kann nichts gegen die Schmerzen machen")

Psychische Risikofaktoren werden zusammen mit sozialen Risikofaktoren als Yellow Flags dargestellt (Tabelle 3) [1]. Neben der formalen Befragung ist auch der Eindruck der Patient:in bei der Anamnese bedeutsam (hohe innere Anspannung, Unruhe, Verhaltensauffälligkeiten). Der soziale Kontext ist bei der Beurteilung des Chronifizierungsrisikos entscheidend. Soziale und arbeitsplatzbezogene Faktoren sind anhand der Yellow und Blue/Black Flags (Tabelle 3 und 4) [7] einzuschätzen.

Neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung

Das nozizeptive System ist für die Wahrnehmung schädlicher beziehungsweise potenziell schädlicher Reize zuständig. Die einzelnen Bestandteile dieses Systems sind keine, wie oft falsch dargestellt, "Schmerzrezeptoren" oder "Schmerzleiter", da Schmerz erst durch die kortikale Verarbeitung nach vielfältigen Verarbeitungsschritten entsteht [8]. Die Übertragung nozizeptiver Reize vom ersten auf das zweite Neuron ist komplex. Hochfrequente und lang anhaltende nozizeptive Reizung verändert die Sensibilität und führt durch Aktivierung stummer Synapsen zur Schmerzausbreitung (übertragener Schmerz). Beide Prozesse werden als zentrale Sensibilisierung bezeichnet. Typische klinische Phänomene der zentralen Sensibilisierung sind:
  • Hyperalgesie
  • Allodynie
  • Spontanschmerz
  • Schmerzausbreitung

Auch eine lang anhaltende, niederfrequente Reizung der Hinterhornneurone kann zur zentralen Sensibilisierung führen [9]. Für den Schmerz existiert hier aber kein spezialisiertes Hirnzentrum. Nozizeptive Reize werden vielmehr in verschiedenen Kortexarealen und subkortikalen Zentren (in der Schmerzmatrix) verarbeitet [10]:
  • Somatosensorischer Kortex
  • Thalamus
  • Gyrus cinguli
  • Präfrontaler Kortex
  • Insula

Bei chronischen Schmerzen zeigen sich strukturelle Veränderungen (Substanzab- und -zunahme) in Hirnregionen, die zur Schmerzmatrix zählen [11, 12, 13]. Die Patient:innen haben niedrigere Schmerzschwellen und eine geringere Schmerztoleranz. Zudem verändert sich bei der Schmerzchronifizierung die kortikale (somatosensorischer und -motorischer Kortex) und thalamische Repräsentation betroffener Körperareale. Dabei steht das Ausmaß der Veränderung im Verhältnis zur empfundenen Schmerzstärke und der Dauer der nozizeptiven Reizung. Durch effektive Therapiemaßnahmen (z. B. Funktionstraining) sind die Reorganisation im ZNS beziehungsweise die kortikale Repräsentation und der Schmerz beeinflussbar [14 – 23]. Klinisch zeigen sich die Sensibilisierungsprozesse anhand der klinisch beobachteten Diskrepanz zwischen Befundlage und Erleben der Patient:in.

Zusammenfassung und Diskussion

Rückenschmerzen sind immer ein komplexes Geschehen. Das Zusammenspiel pathomorphologischer, somatisch funktioneller, psychosozialer und neurophysiologischer Aspekte ist für Schmerzentstehung, -chronifizierung und resultierende Einschränkungen verantwortlich. Das Wissen um diese Komplexität kann durch eine gezielte Diagnostik und Therapie die Chronifizierung verhindern.

ESSENTIALS – Wichtig für die Sprechstunde
  • Pathomorphologische, somatisch funktionelle, psychosoziale und neurophysiologische Faktoren beachten!
  • Psychische und soziale Risiken gelten als Yellow Flags.
  • Bei Red Flags ist ein dringender Diagnostik- und Therapiebedarf angezeigt.
  • Als Blue Flags bezeichnet man subjektiv empfundene, als Black Flags objektivierbare Belastungen.


Literatur:
1. https://www.leitlinien.de/nvl/html/kreuzschmerz/kapitel-1, Zugriff 15.12.2020
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3. Niemier K, Seidel W, Psczolla M, Ritz W, Holtschmit, JH, Steinmetz A (Herausgeber). Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems Multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung. Degruyter 2018; ISBN: 978-3-11-049401-3
4. Niemier K, Schulz J, Emmerich J, Liefring V, Beyer L. Chronic Muscular Skeletal Pain Syndromes, New Models for an Old Problem. Specific and Nonspecific Pain- Time to Move on. J Orthop Sports Med 2020; 2 (1): 1-13; DOI: 10.26502/josm.5115000xx
5. Niemier K, Seidel W, Liefring V, Psczolla M, Beyer L, Ritz W. Von der Funktionsstörung zur Funktionskrankheit. Manuelle Medizin – Was ist der therapeutische Ansatzpunkt. Manuelle Medizin 2018;56: 253-258,
6. Beyer LB, Niemier K. Funktionsstörungen am Bewegungssystems. Funktionelle Regiabilität als Grundlage eines optimalen Bewegungsresultats. Manuelle Medizin 2018; 56:293-299; https://doi.org/10.1007/s00337-018-0437-y
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Autor


Krankenhaus Ludwigslust
19288 Ludwigslust

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 40-45