Während Cannabis-basierte Medikamente in der Schmerz- und Palliativmedizin mittlerweile etabliert sind, kommen sie in der Behandlung psychischer Erkrankungen nach wie vor nur selten zum Einsatz. Auch wenn die Studienlage weiterhin dünn ist, so stellen Cannabis-basierte Medikamente vielversprechende Behandlungsansätze bei ansonsten Therapie-resistenten Patient:innen dar.

Es ist weithin bekannt, dass Menschen wegen einer Vielzahl von psychischen Symptomen und Erkrankungen Selbsttherapien mit Cannabis durchführen. In Befragungen werden als Grund für die Einnahme von Cannabinoiden am häufigsten eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Depressionen, aber auch Schlafstörungen, Ängste und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) genannt [1, 2]. Leider ist die Studienlage bis heute allerdings so schlecht, dass für keine einzige psychiatrische Indikation bisher abschließend geklärt werden konnte, ob Cannabis-basierte Medikamente wirksam sind [3–7].

Welche Cannabis-basierten Medikamente stehen zur Verfügung?

Die Einteilung der derzeit verfügbaren Cannabis-basierten Medikamente orientiert sich primär am Gehalt der beiden wichtigsten Cannabinoide Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Darüber hinaus kann zwischen zugelassenen Fertigarzneimitteln und Rezepturen unterschieden werden. Schließlich spielt bei der Auswahl die Frage eine Rolle, ob die Behandlung oral oder inhalativ erfolgen soll.

Wann können Cannabis-basierte Medikamente eingesetzt werden?

Alle in Tabelle 1 genannten Cannabis-basierten Medikamente können in Deutschland verordnet werden. Außer CBD/Epidyolex® unterliegen sie dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Die Verordnungsfähigkeit der THC-haltigen Cannabis-basierten Medikamente ist im "Cannabis-als-Medizin-Gesetz" aus dem Jahr 2017 geregelt. Soll eine Behandlung mit einem dieser Medikamente off- oder no-label zulasten der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) erfolgen, so ist zuvor ein entsprechender Antrag an die GKV zu stellen. In § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) V ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen die Krankenkasse die Kosten der Therapie übernehmen muss. Leider wird bei psychischen Erkrankungen die Kostenübernahme in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle abgelehnt, meist mit der Begründung, dass entweder keine schwerwiegende Erkrankung bestehe oder Therapiealternativen zur Verfügung stünden. Diese Praxis der Krankenkassen führt dazu, dass auch sechs Jahre nach Inkrafttreten des Cannabisgesetzes nur wenige praktische Erfahrungen in der Anwendung Cannabis-basierter Medikamente bei psychischen Erkrankungen gewonnen werden konnten. Für die Patient:innen bedeutet dies, dass sie auch heute noch – selbst bei guten Behandlungserfolgen – oft illegale Selbsttherapien durchführen müssen.

Wie ist die Datenlage?

Bis heute ist kein Cannabis-basiertes Fertigarzneimittel für die Behandlung einer psychischen Erkrankung zugelassen. Es gibt Hinweise, dass Nabiximols zur Therapie der Cannabisabhängigkeit eingesetzt werden kann. Ob Cannabinoide auch in der Behandlung anderer Abhängigkeitserkrankungen wirksam sind, ist nicht bekannt. Es gibt gut begründete Hinweise, dass CBD Symptome der Schizophrenie und Ängste – besonders im Rahmen einer sozialen Angststörung – mindern kann. In der Behandlung der Autismus-Spektrumstörung und der PTBS scheinen THC-haltige Cannabis-Arzneimittel und fraglich auch CBD wirksam zu sein. Zum Tourette-Syndrom liegen mittlerweile mehrere kontrollierte Studien vor, die eine Wirksamkeit THC-haltiger Cannabinoide zunehmend wahrscheinlich machen. Demgegenüber wurde bisher nur eine einzige kleine kontrollierte Studie mit Nabiximols in der Behandlung der ADHS durchgeführt mit positiven Trends. Auch wenn in Zusammenhang mit anderen Erkrankungen wie Schmerz oder Multipler Sklerose oft darüber berichtet wird, dass THC-haltige Cannabis-basierte Medikamente Depressionen und Schlafstörungen bessern, so liegen bisher keine Studien vor, deren primäres Ziel es war, die Wirksamkeit in diesen Indikationen zu untersuchen. Widersprüchlich sind die Ergebnisse aus kleinen Studien in der Behandlung von Zwängen. Tabelle 2 fasst die Zahl der verfügbaren Studien in den jeweiligen Indikationen zusammen (Übersicht in: [8, 9]).

Wie wirken Cannabis-basierte Medikamente bei psychischen Erkrankungen?

Die Tatsache, dass Cannabis-basierte Medikamente möglicherweise bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen mit ganz unterschiedlicher Pathogenese wirksam sind, wirft die Frage auf, wie diese Effekte zu erklären sind. Hierzu wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt. Allerdings kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass auch Placeboeffekte eine Rolle spielen. Da das Endocannabinoid-System (ECS) als wichtigstes Stressregulationssystem des Menschen identifiziert wurde, kann spekuliert werden, dass Cannabis-basierte Medikamente durch eine Stressreduktion/-regulation zu einer Symptomverbesserung führen [10]. Dies ist plausibel, da sich praktisch alle psychischen Erkrankungen unter Stress verschlechtern. Ferner gilt das ECS als wichtigstes Neuromodulationssystem des Gehirns, das praktisch alle wichtigen Neurotransmitter-Systeme (etwa Dopamin, Glutamat, GABA, Noradrenalin, Acetylcholin, Serotonin) beeinflusst [11]. Dies wiederum könnte plausibel eine Symptomverbesserung bei Erkrankungen mit ganz unterschiedlicher Pathogenese erklären. Schließlich wurde gemutmaßt, dass einigen psychischen Erkrankungen eine Störung oder eine Unterfunktion im ECS zugrunde liegen könnte [9]. Eine Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten könnte diese Dysfunktion möglicherweise ausgleichen.

Welche Risiken bestehen?

Cannabis-basierte Medikamente sind überaus gut verträglich und führen bei richtiger Anwendung deutlich seltener zu unerwünschten Wirkungen als viele andere gebräuchliche Psychopharmaka. Das Abhängigkeitsrisiko von Cannabis ist generell relativ gering. In der ärztlich überwachten medizinischen Anwendung spielt es kaum je eine Rolle. Durch THC hervorgerufene psychotrope Effekte werden von Patient:innen regelhaft als unerwünschte Wirkungen empfunden. Absolute Kontraindikationen sind neben einer Überempfindlichkeit eine akute Psychose. Besteht in der Vorgeschichte eine Abhängigkeitserkrankung, sollte die Indikation zur Therapie mit einem Cannabis-basierten Medikament sorgfältig abgewogen werden [9, 12]. Während CBD in hohen Dosierungen von mehreren Hundert mg/Tag zu klinisch relevanten Wechselwirkungen führen kann, kann THC mit praktisch allen Medikamenten kombiniert werden. Allerdings sind pharmakodynamische Wechselwirkungen zu beachten, etwa eine Verstärkung einer sedierenden Wirkung [8, 9].

Praktisches Vorgehen

Bei naiven Patient:innen bietet sich für einen Behandlungsversuch ein balancierter oraler Extrakt an mit einem ausgeglichenen Verhältnis von THC:CBD. Die Anfangsdosis sollte niedrig sein, d. h. je nach Alter, Vorerkrankungen und Begleitmedikation zwischen 1,0 und 2,5 mg THC/Tag. Nachfolgend sollte eine langsame Dosissteigerung (z. B. um 1,0 bis 2,5 mg THC alle zwei bis fünf Tage) erfolgen bis zum Eintritt einer Wirkung. Schließlich muss in Abhängigkeit von Wirkstärke und -dauer die tageszeitliche Verteilung (bei oraler Einnahme meist zwei bis vier Dosierungen) und Gesamttagesdosis (meist zwischen 10 und 20 mg THC/Tag) ermittelt werden. Patient:innen, die bereits gute Erfahrungen mit einer (meist illegalen Selbst-)Therapie mit Cannabisblüten gemacht haben, sollte eine inhalative Therapie mit Medizinalcannabisblüten per Vaporisator angeboten werden. Grundsätzlich sollten Vorerfahrungen mit Cannabis sowie die Wünsche der Patient:innen in die Therapieplanung einbezogen werden. Der Patient/die Patientin ist über mögliche Nebenwirkungen (am häufigsten Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Mundtrockenheit) sowie eine mögliche Beeinträchtigung beim Führen eines Kraftfahrzeuges aufzuklären.

Fazit

Cannabis-basierte Medikamente haben vermutlich ein großes Potenzial in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wegen der weiterhin mangelhaften Studienlage ist eine abschließende Bewertung aber für keine psychische Erkrankung möglich. Die vielversprechendsten Daten liegen für eine Wirksamkeit THC-haltiger Cannabis-basierter Medikamente für die Behandlung des Tourette-Syndroms und der Autismus-Spektrumstörung vor. Wegen der großen therapeutischen Breite und meist guten Verträglichkeit sollte an die Möglichkeit einer Cannabis-basierten Therapie besonders dann gedacht werden, wenn andere Behandlungen unwirksam oder nicht verträglich waren. Dies schließt auch Erkrankungen ein, für die bisher kaum Daten oder überhaupt keine Studien vorliegen wie etwa die ADHS oder Persönlichkeitsstörungen (insbesondere emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ), da zahlreiche Patient:innen mit diesen Erkrankungen über deutliche Symptomverbesserungen nach Einnahme von Cannabis berichten.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Es gibt bisher wenig Erfahrung mit Cannabis-basierten Medikamenten zur Therapie psychischer Störungen.
  • Es existieren jedoch ermutigende Daten, besonders beim Tourette-Syndrom und bei Autismus.
  • Daran denken sollte man, wenn andere Therapien unwirksam oder nicht verträglich waren.


Literatur:
1. Hazekamp A, Ware MA, Muller-Vahl KR, Abrams D, Grotenhermen F. The medicinal use of cannabis and cannabinoids--an international cross-sectional survey on administration forms. J Psychoactive Drugs. August 2013;45(3):199–210.
2. Lintzeris N, Mills L, Abelev SV, Suraev A, Arnold JC, McGregor IS. Medical cannabis use in Australia: consumer experiences from the online cannabis as medicine survey 2020 (CAMS-20). Harm Reduction Journal. 30. Juli 2022;19(1):88.
3. Sarris J, Sinclair J, Karamacoska D, Davidson M, Firth J. Medicinal cannabis for psychiatric disorders: a clinically-focused systematic review. BMC Psychiatry. 16 2020;20(1):24.
4. McKee KA, Hmidan A, Crocker CE, Lam RW, Meyer JH, Crockford D, u. a. Potential therapeutic benefits of cannabinoid products in adult psychiatric disorders: A systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. J Psychiatr Res. August 2021;140:267–81.
5. Black N, Stockings E, Campbell G, Tran LT, Zagic D, Hall WD, u. a. Cannabinoids for the treatment of mental disorders and symptoms of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry. 2019;6(12):995–1010.
6. Lim K, See YM, Lee J. A Systematic Review of the Effectiveness of Medical Cannabis for Psychiatric, Movement and Neurodegenerative Disorders. Clin Psychopharmacol Neurosci. 30. November 2017;15(4):301–12.
7. Stanciu CN, Brunette MF, Teja N, Budney AJ. Evidence for Use of Cannabinoids in Mood Disorders, Anxiety Disorders, and PTSD: A Systematic Review. Https://DoiOrg/101176/AppiPs202000189. 2021;1–8.
8. Ziegler AS. Cannabis Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart; 2022.
9. Müller-Vahl KR, Grotenhermen F, Herausgeber. Cannabis und Cannabinoide in der Medizin. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2020.
10. deRoon-Cassini TA, Stollenwerk TM, Beatka M, Hillard CJ. Meet Your Stress Management Professionals: The Endocannabinoids. Trends Mol Med. Oktober 2020;26(10):953–68.
11. Navarrete F, García-Gutiérrez MS, Jurado-Barba R, Rubio G, Gasparyan A, Austrich-Olivares A, u. a. Endocannabinoid System Components as Potential Biomarkers in Psychiatry. Front Psychiatry. 2020;11:315.
12. Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S, Di Nisio M, Duffy S, Hernandez AV, u. a. Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA. 23. Juni 2015;313(24):2456–73.


Autorin

© privat
Prof. Dr. Kirsten R. Müller-Vahl

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
30625 Hannover

Erklärung zu Interessenkonflikten:
Kirsten Müller-Vahl has received financial or material research support from EU (FP7-HEALTH-2011 No. 278367, FP7-PEOPLE-2012-ITN No. 316978), DFG: GZ MU 1527/3-1 and GZ MU 1527/3-2, BMBF: 01KG1421, National Institute of Mental Health (NIMH), Tourette Gesellschaft Deutschland e.V., Else-Kröner-Fresenius-Stiftung, GW pharmaceuticals, Almirall, Abide Therapeutics, Emalex Biosciences, Inc., Noema Pharma, CannaXan, and Therapix Biosiences.
She has received consultant‘s and other honoraria from Abide Therapeutics, adjupharm, Alexion, AMP Alternative Medical Products GmbH, Ingelheim International GmbH, Bionorica Ethics GmbH, CannaMedical Pharma GmbH, Canopy Grouth, Columbia Care, CTC Communications Corp., Demecan, Enua pharma, Ethypharm GmbH, Eurox Group, Global Praxis Group Limited, Hormosan Pharma GmbH, Lundbeck, MCI Germany, Neuraxpharm, Noema Pharma, Sanity Group, Stadapharm GmbH, Synendos Therapeutics AG, Syqe, Tilray, and Zambon.
She is an advisory/scientific board member for Alexion, Branchenverband Cannabiswirtschaft e.V. (BvCW), CannaMedical Pharma GmbH, Bionorica Ethics GmbH, CannaXan GmbH, Canopy Growth, Columbia Care, Ethypharm GmbH, Hormosan Pharma GmbH, IMC Germany, Leafly Deutschland GmbH, Neuraxpharm, Sanity Group, Stadapharm GmbH, Synendos Therapeutics AG, Syqe Medical Ltd., Therapix Biosciences Ltd., and Tilray.
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She served as a guest editor for Frontiers in Neurology on the research topic "The neurobiology and genetics of Gilles de la Tourette syndrome: new avenues through large-scale collaborative projects", is an associate editor for "Cannabis and Cannabinoid Research" and an Editorial Board Member of "Medical Cannabis and Cannabinoids" und "MDPI-Reports" and a Scientific board member for "Zeitschrift für Allgemeinmedizin".



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (7) Seite 38-41