SARS-CoV-2-Pandemie, Krieg in Europa, Waldbrände und Hitzewellen als Folgen des Klimawandels, unterbrochene Lieferketten, Energieknappheit. Die Krisen häufen sich und folgen aufeinander in immer schnellerem Takt. Davon betroffen ist auch die Gesundheit der Menschen und ihre gesundheitliche Versorgung. Ist das deutsche Gesundheitssystem für solche Herausforderungen ausreichend gewappnet? Der Sachverständigenrat Gesundheit kommt in einem Gutachten zu dem Schluss: nicht wirklich! Einen Lösungsansatz sieht er aber in der Förderung der Hausarztmedizin.

Die bisherige Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut organisiert ist und wir angesichts eines ausdifferenzierten Rettungs- und Gesundheitssystems bestens auch auf unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet sind, war und ist trügerisch. Unser Gesundheitssystem ist hochkomplex, ein behäbiges Schönwettersystem, das unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis leidet." So bringt Prof. Ferdinand Gerlach, Allgemeinmediziner und Noch-Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit & Pflege (SVR), die Ergebnisse des aktuellen Gutachtens zur "Resilienz im Gesundheitswesen" auf den Punkt und warnt: "Zugleich ist dieses System zwischen Bund, Ländern und Landkreisen bzw. Kommunen unzureichend koordiniert – nicht nur im Krisenfall. Das Ergebnis ist häufig schlechter, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre. Weder auf Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien ist unser Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet. Hier müssen wir dringend die Krisenfestigkeit oder, wie man heute auch gerne sagt, die Resilienz stärken."

Für den Krisenfall nicht gerüstet

Dabei gebe es für viele Bereiche und Herausforderungen bereits gute Analysen und konkrete Konzepte zur Resilienzstärkung, stellt der SVR fest: zum Beispiel Pandemie- oder Hitzepläne. Aber diese verstaubten oft in Schubladen, anstatt konsequent umgesetzt und eingeübt zu werden. Was fehle, sei eine koordinierte Vorbereitung auf den Krisenfall mit ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen, beklagt der stellv. Ratsvorsitzende, Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner. Um zukünftige Krisen besser zu bewältigen, müsse unser Gesundheitssystem, ja unser Land insgesamt, dringend krisenresistenter und strukturell widerstandsfähiger werden. Insbesondere müssten die Möglichkeiten der Digitalisierung umfassend genutzt werden. "Wir müssen die verantwortliche Datennutzung zur Verbesserung der Versorgung und der epidemiologischen Lageanalyse dringend vereinfachen", fordert Prof. Dr. med. Petra Thürmann, klinische Pharmakologin und leitende Krankenhausärztin. In der SARS-CoV-2-Pandemie sei Deutschland weitgehend im Blindflug unterwegs gewesen. Bei den Verläufen und Folgen von Infektionen, Behandlungen und Impfungen habe man sich häufig auf wesentlich bessere Daten aus anderen Ländern verlassen müssen.

Empfehlungen zur Steigerung der Resilienz

Dieses SVR-Gutachten analysiert nicht nur die Herausforderungen, denen unser Gesundheitssystem gegenübersteht, sowie seine für deren Bewältigung relevanten Stärken und Schwächen. Es liefert auch Empfehlungen, die dazu beitragen sollen, dass seine Resilienz bzw. die öffentliche Krisenfestigkeit steigt und es zukünftigen Krisen besser standhalten kann. Dazu beleuchtet der Sachverständigenrat einzelne Versorgungsbereiche: den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die Akutversorgung und die Langzeitpflege. Untersucht werden zudem konkrete Strategien zur Stärkung der Lieferketten, der zielgruppengerechten Kommunikation und der wissenschaftlichen Politikberatung sowie zur Verbesserung des akuten Krisenmanagements.

Wichtige Rolle für Hausärzt:innen in der Primärversorgung

Für Hausärzt:innen besonders interessant ist, was der SVR zur Stärkung der Akutversorgung empfiehlt. Hier steht klar, dass im Sinne der Resilienzförderung auch die primär- bzw. hausärztliche Versorgung verbessert werden müsse. Insbesondere durch eine soziallagenbezogene Gesundheitsförderung und Prävention, die in der Primärversorgung angesiedelt und möglichst kommunal vernetzt ist, bestehe ein Potenzial, den Gesundheitszustand bzw. die gesundheitsbezogene Resilienz der Bevölkerung dauerhaft und nachhaltig zu verbessern. Wenn die primär- bzw. hausärztlichen Strukturen tatsächlich die erste Anlaufstelle für die Patient:innen sind, erhöhe dies die Chance, dass die dortigen Leistungserbringer einen Zugang zur vollständigen Krankheitsgeschichte und zum sozialen Hintergrund der Patient:innen haben. Ein positiver Nebeneffekt wäre die Entlastung von Krankenhauskapazitäten u. a. durch die Vermeidung der Einweisung von Patient:innen mit ambulant-sensitiven Diagnosen, so der SVR.

Bei der Bewältigung von Krisen wie z. B. die SARS-CoV-2-Pandemie nehme die hausärztliche Primärversorgung eine wichtige Rolle ein. Hausärzt:innen können die bestehenden Beziehungen zu ihren Patient:innen nutzen, um Risikopersonen, z. B. während Pandemien oder Hitzewellen, zu identifizieren, aktiv zu kontaktieren und zu unterstützen. So hätten die meisten Menschen mit leichten COVID-19-Symptomen hausärztlich behandelt werden können, wodurch die Krankenhäuser vor Überlastung geschützt worden seien. Vor allem sollten die ambulanten Strukturen die Kontinuität der Versorgung von chronisch Kranken gewährleisten.

Das Hausarztprinzip sollte gestärkt und verbessert werden

Ein Problem, das der SVR in seinem Gutachten ausgemacht hat, bestehe darin, dass nur ein Teil der Bevölkerung eine Hausärzt:in hat und somit viele Versicherte keine etablierte Anlaufstation für die genannten Leistungen, z. B. für eine Impfung, haben. Sowohl im Sinne einer konsequenteren Gesundheitsförderung und -prävention als auch im Sinne der Vorbereitung ambulanter Versorgungsstrukturen auf zukünftige Krisen sollte daher das Hausarztprinzip deutlich in seiner Funktion verbessert und gestärkt werden. Nicht nur in Krisenzeiten könne durch eine qualitativ gute hausärztliche Versorgung, bei der Hausärzt:innen helfen, Behandlungspfade und die fachärztliche Versorgung zu koordinieren, die Qualität und Effizienz der Versorgung verbessert werden. Der SVR führt dazu als Beleg ein systematisches Review von 25 internationalen Studien zum Gate-
keeping an, d. h. zur Steuerung des Zugangs zur fachärztlichen Versorgung durch Hausärzt:innen, demzufolge Gatekeeping-Modelle mit einer besseren Versorgungsqualität und einer angemessenen Überweisung für weitere Krankenhausbesuche und Untersuchungen verbunden waren. Gatekeeping sei dabei zwar mit mehr Besuchen in der Grundversorgung verbunden, führe jedoch zu einer geringeren Inanspruchnahme fachärztlicher Versorgung und zu weniger Krankenhausaufenthalten.

Mehr Anreize für eine Hausarztzentrierte Versorgung

Als positives Beispiel führt der SVR auch das Modell der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) an, bei dem bisher mehr als 17.000 Hausärzt:innen und über 5 Millionen Patient:innen teilnähmen. Kontrollierte Beobachtungsstudien seien zu dem Ergebnis gekommen, dass Versicherte, die an der HzV teilnahmen, im Vergleich zu jenen, die nicht teilnahmen, eine niedrigere 5-Jahres-Sterblichkeit sowie ein geringeres Risiko für einen Krankenhausaufenthalt hatten und eine höhere Versorgungskontinuität erfuhren. Eine weitere Studie lege zudem nahe, dass eine Hausarztzentrierte Versorgung eine intensivere und besser koordinierte Gesundheitsversorgung insbesondere für ältere, chronisch kranke, multimorbide Patient:innen fördern kann.

Um eine weitergehende Hausarztzentrierung zu erreichen, müsse die hausärztliche Versorgung internationalen Vorbildern folgend qualitativ und quantitativ weiter verbessert werden, rät der SVR. In einem ersten Schritt sollte die Teilnahme an der HzV, oder einem weiterentwickelten Modell eines Hausarztsystems, für Versicherte sowie Hausärzt:innen mit größeren Anreizen verbunden werden. So könnten in Dänemark und den Niederlanden Fachärzt:innen nur mit einer hausärztlichen Überweisung zuzahlungsfrei besucht werden, was dort zu hohen Quoten der Teilnahme an der Hausarztzentrierten Versorgung führt (98 % in Dänemark, 95 % in den Niederlanden).

Um eine solche qualitativ hochwertige Hausarztzentrierte Versorgung zu gewährleisten, würden allerdings auch mehr und bestmöglich qualifizierte Fachärzt:innen für Allgemeinmedizin benötigt. Der SVR verweist an dieser Stelle noch einmal darauf, dass der Masterplan Medizinstudium 2020 zur Stärkung der Allgemeinmedizin in der Ausbildung immer noch nicht umgesetzt ist. Hier dränge allmählich die Zeit.

Starke Hausarztmedizin macht das Gesundheitssystem resilienter

Ziel der Stärkung des Hausarztsystems und einer sinnvoll gestuften gesundheitlichen Versorgung in Deutschland sollte sein, dass allen Versicherten mit Versorgungsbedarf eine qualitativ gute hausärztliche Versorgung angeboten werden kann. Sie sollten sich bei einer Hausarztpraxis registrieren. Dabei zöge eine Registrierung keine Verpflichtung zur Inanspruchnahme hausärztlicher Leistungen nach sich. Vielmehr gehe es um die Möglichkeit einer bevölkerungsweiten, zuverlässigen und koordinierten Erfassung von und Kommunikation mit Patient:innen im Falle einer öffentlichen Gesundheitskrise (z. B. im Rahmen einer dann erforderlichen Impfkampagne), für die eine möglichst vollständige Registrierung Voraussetzung wäre, erläutert der SVR. Eine obligatorische Registrierung könnte neben der freiwilligen Einschreibung in die HzV nach § 73 SGB V bspw. über ein Feld in der elektronischen Patientenakte (ePA) erfolgen, in die eine von den Versicherten frei gewählte Hausarztpraxis eingetragen wird. Prämisse einer solchen Regelung wäre, dass die Freiheit der Patient:innen, zwischen allen Hausärzt:innen zu wählen, sowie das Recht der Hausärzt:innen, Versicherte im begründeten Einzelfall abzulehnen, erhalten bleiben. Nur so könne das wichtige Vertrauensverhältnis der Arzt-Patienten-Beziehung gewahrt werden.

In einer Art Resümee kommt der Sachverständigenrat zu dem Schluss, dass die qualitativ hochwertige Ausgestaltung einer auf diese Weise gestärkten und verzahnten hausärztlichen Grundversorgung eine sehr wirksame, die Resilienz des gesamten Systems gesundheitlicher Versorgung steigernde Maßnahme wäre.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (7) Seite 22-24