Hinterher ist man immer schlauer. So staunt man Anfang Mai nicht schlecht darüber, dass die für die Corona-Pandemie mühsam freigeschaufelten (Intensiv-)Bettenkapazitäten und Beatmungsplätze nur spärlich ausgelastet waren. Oder man reibt sich verwundert die Augen, wenn die extra eingerichteten Corona-Teststationen fast wie verlassen wirken und eigentlich insgesamt doppelt so viele Tests möglich wären, wie derzeit tatsächlich stattfinden. Und es mutet zumindest seltsam an, wenn wir uns bei der Zahl der tatsächlich Infizierten und der Zahl der Toten statistisch im "weitgehenden Blindflug" befinden, wie es jüngst Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, freimütig eingeräumt hat.

Rigide Maßnahmen waren nötig …

Um nicht missverstanden zu werden: Das politische Handeln ist von einer großen Mehrheit der Bevölkerung bisher zu Recht mitgetragen worden. Frühe Maßnahmen, die Disziplin der Bevölkerung und ein – auch hausärztlich – gut aufgestelltes und schnell umgerüstetes Gesundheitssystem haben uns vor dem Desaster bewahrt, das Länder wie Italien oder Spanien durchleben mussten. Doch das alles musste sehr teuer erkauft werden. So ist die groteske Situation eingetreten, dass die Betten, die in den Krankenhäusern für COVID-19-Patienten freigehalten wurden, weitgehend ungenutzt blieben. Ist es zu rechtfertigen, dass diese Betten für viele andere schwerer Erkrankte – wie etwa für nicht konsequent weiterbehandelte Krebspatienten – leer bleiben mussten und damit auch mehr Todesfälle in Kauf genommen wurden? Ist es ethisch vertretbar, die hausärztliche Betreuung im Pflegeheim, eine würdige palliative Begleitung am Lebensende bis hin zu einer gebührenden Trauerfeier für verstorbene Patienten auf ein für Angehörige nur schwer erträgliches Minimum zu reduzieren? Oder stimmt die Messlatte, wenn wir wissen, dass pro Jahr mindestens sechsmal so viele Menschen an der Influenza oder an Krankenhauskeimen sterben als bis Anfang Mai an der COVID-19-Erkrankung? Denn runtergebrochen auf eine Stadt oder Region ist die Zahl der Infizierten und Toten selbst in Bayern und erst recht in Mecklenburg-Vorpommern gar nicht so hoch.

… doch die Kollateralschäden sind gravierend

Das sicherlich ist auch ein Erfolg des rigiden und freiheitseinschränkenden Kurses der Bundesregierung, der bis Ende April richtig war. Doch angesichts der massiven Kollateralschäden weit über den Gesundheitssektor hinaus ist diese Strategie nun nicht mehr zu rechtfertigen. Der politische Kurs darf ab jetzt nicht mehr nur auf das Virus gerichtet sein. Denn alle weiteren Kollateralschäden, die aus den Freiheitseinschränkungen, den wirtschaftlichen Einbußen und den psychischen Belastungen entstehen, sind jetzt gravierender als eine erneut höhere Anzahl von Infizierten.

Damit sollen die COVID-19-Erkrankungen in keiner Weise verharmlost werden, zumal eine zweite Welle immer befürchtet werden muss. Doch dieses Risiko muss jetzt in Kauf genommen werden. Die Regierung muss nun sofort schlau handeln und sämtliche Auswirkungen der Coronakrise in den Blick nehmen und nicht mehr nur auf das hohe Gut Gesundheit ach-ten. Sonst werden die Kollateralschäden nicht mehr zu reparieren sein,


fürchtet Ihr

Raimund Schmid


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (10) Seite 32