Neuropathische Schmerzen sind häufig, ihre pharmakologischen Therapieoptionen aber limitiert. Durch Stratifizierungsansätze können Patient:innen subgruppiert und so Therapieresponder identifiziert werden. Erste Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse, die zukünftig auch im klinischen Alltag genutzt werden können, um die Therapie neuropathischer Schmerzen zu verbessern.
- Schmerzanamnese: Der Patient beschreibt zwei Schmerzformen: 1) brennende Dauerschmerzen und 2) plötzlich einschießende Schmerzattacken. Zudem berichtet er über unangenehme Kribbelparästhesien. Die Dauerschmerzen und Kribbelparästhesien seien durch die aktuelle medikamentöse Therapie mit Gabapentin 600 mg, Amitriptylin 25 mg und Oxycodon 30 mg gut regredient. Im Vordergrund stünden die Schmerzattacken in Form von kurzen Stromschlägen, die nicht auf die derzeitige Therapie ansprechen würden. Diese würden seit sechs Monaten gehäuft, 6- bis 7-mal pro Tag auftreten, vor allem nachts mit Beeinträchtigung der Schlafqualität. Die maximale Schmerzintensität sei eine 10 auf der Numerischen Rating Skala (0=kein Schmerz, 10=maximal vorstellbarer Schmerz).
- Therapie: Carbamazepin retard 400 mg pro Tag
- Verlauf: siehe weiter hinten
Neuropathische Schmerzen stellen mit einer Prävalenz von 6,9–10 % eine häufige Erkrankung und häufigen Grund für Arztkonsultationen dar [9]. Sie entstehen als Folge einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems und sind von nozizeptiven und noziplastischen Schmerzen abzugrenzen [10, 11]. Je nach Lokalisation werden periphere und zentrale neuropathische Schmerzen unterschieden. Beispiele sind die postherpetische Neuralgie mit persistierenden Schmerzen in einem oder mehreren Dermatomen und die schmerzhafte Polyneuropathie mit typischerweise von distal nach proximal aufsteigenden, symmetrischen Schmerzen. Neuropathische Schmerzen präsentieren sich klinisch heterogen. Patient:innen berichten meist über ein Nebeneinander von Plus- und Minussymptomen. Als Minussymptome werden eine verminderte Wahrnehmung oder Schmerzempfindlichkeit (Hypästhesie, Hypalgesie) gegenüber äußeren Reizen bezeichnet. Plussymptome umfassen unangenehme Kribbelparästhesien, brennende Dauerschmerzen, einschießende Schmerzattacken und evozierte Schmerzen [2]. Zudem können neuropathische Schmerzen Schlafstörungen und psychische Komorbiditäten begünstigen, die Funktionalität beeinträchtigen und so die Lebensqualität einschränken. Eine gute medikamentöse Schmerzeinstellung ist daher eine wichtige Therapiesäule, stellt aber gleichzeitig eine große Herausforderung dar.
Prädiktion der Therapieresponse
Laut Leitlinien [8, 14] sind bei der medikamentösen Therapie Pregabalin und Gabapentin, trizyklische Antidepressiva und der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin Mittel der ersten Wahl. Allerdings kann selbst mit diesen Erstlinientherapeutika oft keine suffiziente Schmerzlinderung erzielt werden. Eine Frage, die daher in den letzten Jahren immer mehr in den wissenschaftlichen Fokus gerückt ist, lautet: Welche Patient:innen profitieren von welcher Therapie und wie können diese Therapieresponder identifiziert werden? Ein möglicher Schlüssel zur Prädiktion des Therapieansprechens ist die Einteilung der Patient:innen anhand des sensorischen Phänotyps (Abb. 1). Diesem Ansatz liegt die Idee zugrunde, dass 1) die klinischen Symptome Aufschlüsse über die zugrundeliegenden Pathomechanismen liefern und 2) diese Pathomechanismen sich innerhalb einer Krankheitsätiologie und interindividuell unterscheiden. Diesem Konzept folgt die mechanismenbasierte individualisierte Schmerztherapie [1].
Quantitative Sensorische Testung (QST)
Die sensorische Testung ist ein psychophysikalisches Verfahren, bei dem die Patient:in auf der Haut applizierte Reize bewertet. Im Jahr 2006 wurde vom Deutschen Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS) ein QST-Protokoll entwickelt, das sich durch eine hohe Standardisierung mit definierter Handlungsanweisung und Reizen auszeichnet [13]. Es werden 13 thermische und mechanische Parameter untersucht, anhand derer die Funktion von unmyelinisierten C-Fasern, dünn-myelinisierten Aδ-Fasern und dick-myelinisierten Aβ-Fasern oder deren zentralen Bahnen evaluiert werden kann (vgl. Tabelle 1). Durch Vergleich mit Normwerten gesunder Kontrollen kann für jede Patient:in ein individuelles Sensibilitätsprofil erstellt werden.In einer europaweiten Studie wurde eine große Patientengruppe mit peripheren neuropathischen Schmerzen unterschiedlicher Ätiologie anhand ihres QST-Profils subgruppiert [3]. Es wurden drei Cluster identifiziert, die sich durch unterschiedliche Profile und somit unterschiedliche Pathomechanismen auszeichnen (vgl. Tabelle 2): sensorischer Verlust, thermische Hyperalgesie, mechanische Hyperalgesie. Diese Stratifizierung kann genutzt werden, um Therapieresponse vorherzusagen. In den letzten Jahren erfolgte die Phänotypisierung meist retrospektiv, d. h. nach Studienende [15]. Viel interessanter ist aber die prospektive Stratifizierung. In einer Studie zur Wirksamkeit des Natrium-Kanal-Blockers Oxcarbazepin bei peripheren neuropathischen Schmerzen wurden die Patient:innen vor Therapiebeginn anhand ihres QST-Profils in eine irritable nociceptor- und eine non-irritable nociceptor-Gruppe eingeteilt [7]. Interessanterweise sprach die Gruppe mit intakter Nervenfaserfunktion (irritable nociceptor) besser auf die Therapie an als Patient:innen mit einem Verlust der Faserfunktion. Somit kann bei etwa 33 % der Patient:innen (je nach Krankheitsentität) ein Ansprechen auf Oxcarbazepin postuliert werden [3].
Sensorische Testung für die Praxis
Eine entscheidende Limitation der QST ist das teure Equipment und der hohe Zeitaufwand, was die Nutzung in der klinischen Praxis erschwert. Verschiedene Forschungsgruppen haben sich daher auf die Entwicklung von Bedside-Untersuchungen fokussiert, die schnell und mit einfachen Utensilien durchzuführen sind [6, 12, 17]. Durch den Einsatz von Bedside-Parametern lassen sich ähnliche Qualitäten abprüfen wie mit der QST. Fünf simple Parameter reichen beispielsweise aus, um Patient:innen anhand eines bestimmten Algorithmus in die definierten QST-Cluster einzuteilen [12]. Dies sind im Einzelnen: Kälteintensität (8°C-Metallplättchen bzw. -würfel), Vibrationsempfindungsschwelle (Stimmgabel), Schmerzintensität eines Einzelreizes und einer Reizserie (CMS Haar) und Berührungsintensität (Q-Tip). Die Untersuchung ist auch vielversprechend für niedergelassene Ärzt:innen aller Fachrichtungen.
Schmerzfragebögen
Neben der sensorischen Testung stellen Fragebögen eine Stratifizierungsmöglichkeit dar. Im Gegensatz zur QST erfassen Fragebögen auch Spontanschmerzen, sind einfach verfügbar und daher auch im klinischen Alltag gut anzuwenden. Es existiert eine Vielzahl von Fragebögen zur Detektion neuropathischer Schmerzkomponenten (painDETECT-Fragebogen, painPREDICT-Fragebogen etc.). Der Neuropathic Pain Symptom Inventory (NPSI) ist ein validierter Fragebogen zur Erfassung der Qualität neuropathischer Schmerzen mit fünf Subscores: Evozierte Schmerzen, Spontanschmerzen, Schmerzattacken, Dysästhesien, Brennschmerzen [4]. Anhand des NPSI können Patient:innen ebenfalls in drei Gruppen eingeteilt werden, die durch unterschiedliche Profile charakterisiert sind: pinpointed pain-, evoked pain- und deep pain-Cluster [5]. Eine Post-hoc-Analyse von Daten zweier placebokontrollierter Studien zeigte eine Wirksamkeit von Botulinumtoxin nur bei Patient:innen mit evozierten Schmerzen (evoked pain- und deep pain-Cluster), wohingegen sich im pinpointed pain-Cluster ohne Hinweise auf evozierte Schmerzen kein signifikanter Effekt zeigte. Evozierter Schmerz scheint somit für das Ansprechen auf eine Therapie mit Botulinumtoxin zu prädisponieren.
Zum Fallbeispiel: die Therapie
Der 55-jährige Patient präsentierte sich mit typischen Plussymptomen neuropathischer Schmerzen in einem neuroanatomisch plausiblen Areal: Brennschmerzen, einschießende Schmerzattacken, Kribbelparästhesien. Aufgrund der klinischen Präsentation konnte dieser Patient dem irritable nociceptor-Typ zugeordnet werden. Bei einer Amputation werden die peripheren Nervenfasern durchtrennt. Infolgedessen kommt es durch Aussprossen der Nervenendigungen zur Bildung von Neuromen mit gesteigerter Expression von Natriumkanälen. Diese Kanäle sind durch eine spontane Depolarisation und gesteigerte Erregbarkeit gekennzeichnet und führen zu Schmerzen im Stumpfbereich. Eine gezielte Beeinflussung dieses Pathomechanismus durch Einsatz von Natrium-Kanal-Blockern kann zu einer Linderung der Stumpfschmerzen führen [16]. Obwohl Carbamazepin zur neuropathischen Schmerztherapie wegen geringer Evidenz nicht generell empfohlen wird [14], wurde diese Therapie hier aufgrund des Pathomechanismus gewählt. Erwartungsgemäß zeigte der Patient hierunter eine suffiziente Schmerzlinderung.
Welche Therapie für welche Patient:in am geeignetsten ist, hängt von vielen Faktoren ab. Die Phänotypisierung ist eine Möglichkeit der Subgruppierung. Neuropathische Schmerzen sind jedoch vielgestaltig. Eine allumfassende Stratifizierung ist nur durch Erfassung unterschiedlicher Qualitäten und Begleitsymptome wie Funktionalität und Depression möglich, wobei je nach Patient:in unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen können.
- Patient:innen sollten anhand ihres Phänotyps subgruppiert werden, dieser kann einen Aufschluss über die zugrundeliegenden Pathomechanismen liefern.
- Durch die Quantitative Sensorische Testung (QST) können Patient:innen mit neuropathischen Schmerzen in drei Cluster eingeteilt werden.
- Einfache Bedside-Testungen können als Pendant zur QST genutzt werden, um Patient:innen mit einfachen Mitteln schnell zu stratifizieren.
- Fragebögen liefern zusätzlich Hinweise über die Spontanschmerzen.

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 32-35