Lebensumstände und Arbeitswelt können in der modernen Industriegesellschaft krank machen und zu Symptomen führen wie Unruhe, Rastlosigkeit oder Schlafstörungen. Diese müssen von Hausärzt:innen als ernsthafte Gesundheitsgefährdungen wahrgenommen und patientengerechte Behandlungsoptionen entwickelt werden. Das intuitive Bogenschießen könnte hier als wirksame Maßnahme in der psychosomatischen hausärztlichen Grundversorgung etabliert werden, wie die Autor:innen des nachfolgenden Beitrags nun wissenschaftlich belegen können.

Es war ein Indianerbogen aus der Jugendzeit, der für den Erstautor vor Jahren der Anlass war, sich näher mit Pfeil und Bogen zu beschäftigen und bei einem professionellen Bogenlehrer das intuitive Bogenschießen zu erlernen. Schon während der ersten Übungseinheiten entstand der Eindruck, dass dieses ursprüngliche Bogenschießen aus dem "Bauchgefühl" heraus und mit Bögen ohne Hilfseinrichtungen ungeteiltes ganzheitliches Erleben bei gleichzeitiger aktiver Entspannung ermöglicht und deshalb im medizinisch-psychologisch-pädagogischen Bereich zum Einsatz kommen könnte [1, 2].

Erfolgreicher Feldversuch

Vor einer Weitergabe dieser positiven Selbsterfahrung an Interessierte und Patient:innen waren verschiedene Vorbereitungen erforderlich. Einerseits musste für die Vermittlung des intuitiven Bogenschießens eine deutlich strukturierte, gut lehrbare und leicht erlernbare, ideologiefreie und problemlos wiederholbare Form entwickelt werden. Andererseits waren geeignete Rahmenbedingungen (Organisation von Raum und Equipment, didaktisch passende Gruppengrößen, Patientenrekrutierung) zu evaluieren und herzustellen. Im Jahr 2017 wurde dann mit der Durchführung von Gruppenkursen in eigener Regie begonnen. doctors today berichtete [3] über diesen innovativen Feldversuch im Rahmen einer hausärztlichen Praxis bereits 2021. Im Verlauf zeigte sich, dass Kurszuspruch und Patientenzufriedenheit außerordentlich groß waren. So entstand der Anspruch, diese subjektiv gefühlten positiven Aspekte des intuitiven Bogenschießens nach Möglichkeit qualitativ und quantitativ korrekt zu erfassen und zu dokumentieren. Letztlich stand auch die Überlegung dahinter, dieses Verfahren bei Eignung als additives Verfahren im hausärztlich-psychosomatischen Therapieinventar zu etablieren.

Körperliche Bewegung und psychisches Befinden im Auge behalten

Vor dem Hintergrund verschiedenster Bogenschulen musste zunächst ein leicht erlernbarer, strukturierter, sportlich korrekter Bewegungsablauf erarbeitet werden, der in wenigen Übungseinheiten von Patient:innen jeder Altersklasse und in jedem Trainingszustand erlernt werden kann. Außerdem sollten das Zusammenwirken von Seele, Geist und Körper sowie die beim intuitiven Bogenschießen entstehenden Metaphern und Assoziationen leicht verständlich und ideologiefrei darstellbar sein. Diese Anforderungen sind erfüllbar, wenn man bei der Vermittlung des Schussablaufes nicht nur die körperlichen Bewegungsmuster, sondern gleichzeitig auch die dem Umgang mit Pfeil und Bogen anhaftenden psychischen Befindlichkeiten im Auge hat.

So belegt der in Einzelschritte zerlegte Schussablauf eindrücklich die Ganzheitlichkeit des intuitiven Bogenschießens: Nach der Einnahme eines stabilen, selbstsicheren Standes in Ausrichtung zum Ziel folgt das achtsame Einlegen des Pfeils in den Bogen. In Verbindung mit einem tiefen Atemzug entsteht bereits jetzt eine während des ganzen Schießvorganges anhaltende Ruhetönung mit Konzentration auf das Hier und Jetzt. Nach dem selbstbewussten Aufrichten des Körpers und Orientierung durch Augenkontakt mit dem Ziel wird der Bogen angehoben, bis der Bogenarm intuitiv die richtige Stellung im Verhältnis zum Ziel erreicht hat. Jetzt zieht die Schützin bzw. der Schütze die angespannte Sehne mit dem Pfeil kraftvoll zum "Anker", einem stabilen Ruhepunkt im Gesicht. Nach einem Moment des Innehaltens wird der Pfeil dann gelöst, wenn der Körper signalisiert, "jetzt trifft der Pfeil". Mit dem Einschlag auf der Scheibe kommt es zu einer Entspannung des gesamten Körpers bei gleichzeitiger Verinnerlichung der beim Schießvorgang wahrgenommenen Erfahrungen (Details siehe [3].

Zur Evaluierung des Verfahrens wurden die von Oktober 2017 bis November 2021 durchgeführten siebzehn Kurse mit insgesamt 132 Teilnehmer:innen und Patient:innen analysiert. Jeder Kurs bestand aus vier neunzigminütigen Übungseinheiten in wöchentlichem Abstand, organisatorisch erfolgte die Anbindung an ein kommerzielles Bogensportfachgeschäft mit einer Bogenhalle und einer Scheibendistanz von 10 – 12 Metern. Anfängergerechte einfache Recurvebögen ohne Hilfsmittel (Zuggewicht 12 – 20 engl. lbs) standen leihweise durch das Bogensportgeschäft zur Verfügung, die Kosten hierfür waren in der Kursgebühr inkludiert.

Die Ausschreibung der Kurse erfolgte unter Hinweis auf die Schwerpunkte des ganzheitlichen Erlebens und der aktiven Entspannung einerseits über die regionalen Volkshochschulen. Andererseits wurden etliche Patient:innen im Rahmen der Sprechstunde und bei gegebenem Anlass direkt durch die Ärzte (Th. Meyer, F. Meyer) rekrutiert, einzelne Teilnehmer:innen kontaktierten auch von sich aus das Bogenfachgeschäft.

Selbstsicherheit, Achtsamkeit und innere Ruhe werden gefördert

Die Erfahrungen der Kursteilnehmer:innen wurden strukturiert als überwiegend retrospektive Querschnittuntersuchung nach dem Mixed-Methods-Design mit Durchführung einer qualitativen sowie quantitativen Datenanalyse im Rahmen zweier Bachelorarbeiten (L. Eipel, D. Jakobi) erhoben, betreut durch H. Streicher vom Institut für Gesundheitssport und Public Health der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Die Analyse stützte sich dabei auf wissenschaftlich fundierte Fragebögen, die von Th. Meyer, E. Meyer, L. Eipel, D. Jakobi und H. Streicher entworfen worden waren. Die Fragebögen enthielten sowohl teilstandardisierte wie vollstandardisierte Items. Der ausgedruckte Fragebogen musste von den Teilnehmer:innen handschriftlich ausgefüllt werden. Nach persönlicher oder telefonischer Vorankündigung wurden dann die Fragebögen mit einem frankierten Rückkuvert an alle Kursteilnehmer:innen ausgegeben oder postalisch versandt. Nach Auswertung der Fragebögen wurde in beiden Arbeiten [4, 5] als Kernaussage und nahezu übereinstimmend festgestellt, dass intuitives Bogenschießen Patient:innen und Teilnehmer:innen aktive Entspannung und individuelles ganzheitliches Erleben mit der entwickelten Methodik und Durchführung ermöglicht. Aufgeschlüsselt nach einzelnen Aspekten finden sich beispielsweise im Fragebogen Teil B von Eipel [4] in der so wesentlichen Verknüpfung von Bewegungsabläufen mit der Wahrnehmung von Gefühlen und Zuständen sehr hohe Zustimmungswerte in den Bereichen Selbstsicherheit (85 %), innere Ruhe (92 % bzw. 89 %), Achtsamkeit (92 %), Entspannung (88 %) und Distanzierung von der Hektik des Alltags (92 %). Als weiteres Indiz der guten Response (Abb. 1) kann auch gewertet werden, dass 78 % aller Kursteilnehmer:innen diesen Sport auch nach dem eigentlichen Kurs weiterverfolgen [4]. Von diesen haben sich 88 % einen eigenen Bogen zugelegt und/oder sich in ihrem privaten Bereich eine Schießmöglichkeit eingerichtet (Abb. 2). 29 % gehen zum Bogenschießen in öffentliche Anlagen, besuchten 3D-Parcours oder sind einem Verein beigetreten. Zwei Personen gaben sogar an, einen Kurs zum Bauen von Bögen und Pfeilen besucht zu haben.

Während erfahrungsgemäß in Kursen für Autogenes Training oder Yoga Frauen schwerpunktmäßig anzutreffen sind [6, 7], zeigte sich als bisher noch nicht bewerteter Nebeneffekt, dass im Unterschied zu bekannten üblichen Entspannungsverfahren etwa die Hälfte aller Kursteilnehmer:innen männlich sind und dabei wenigstens genauso engagiert und interessiert waren wie ihre Bogenkameradinnen. Dieser Gesichtspunkt sollte vor allem unter dem Aspekt einer möglichen psychosomatischen Hilfestellung für Männer in der hausärztlichen Praxis Beachtung verdienen.

Ganzheitliches Erleben und aktive Entspannung

Die Befragungsergebnisse beider Arbeiten [4, 5] unterstreichen die individuelle Möglichkeit ganzheitlichen Erlebens und aktiver Entspannung beim intuitiven Bogenschießen. Fundamental wichtig ist es, die Schütz:innen von Anfang an auf das Einüben eines immer gleichen Bewegungsablaufes hinzuweisen. Nur so können die mit den Bewegungsmustern verknüpfbaren Gefühle, Assoziationen und Bilder für sich individuell empfunden und bewertet werden. Während beispielsweise für den einen Teilnehmer der feste und aufrechte Stand in Verbindung mit sich entwickelndem Selbstvertrauen und Selbstsicherheit wichtig ist, sieht eine andere Teilnehmerin für sich den größten Nutzen in der bewussten Wahrnehmung von innerer Ruhe und Entspannung etwa beim tiefen Ein- und wieder Ausatmen. Das Einlegen des Pfeils in den Bogen weist die Schütz:innen bei jeder Schussabgabe nicht nur auf die Achtsamkeit im Umgang mit Pfeil und Bogen, sondern auch auf Fürsorge mit sich selbst hin. Festhalten und rechtzeitiges Loslassen eines Pfeils müssen nicht nur beim Bogenschießen im richtigen Verhältnis zueinander stehen, sondern können auch als Metapher für das "wahre Leben" verstanden werden. Der Bewegungsablauf allein bietet zahlreiche weitere Interpretationsmöglichkeiten, wobei die vier Übungseinheiten und die dabei erlebte Gruppendynamik erfahrungsgemäß schon bald bei den meisten Teilnehmer:innen zumindest während der Kurszusammenkünfte zu einer spürbaren Distanzierung von der Hektik des Alltags führen.

Ausblick

Im intuitiven Umgang mit Pfeil und Bogen erleben Interessierte, dass auch der moderne Mensch seinen körperlichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten vertrauen kann. Das im intuitiven Bogenschießen breit angelegte bio-psycho-soziale Angebot kann nach Meinung der Autor:innen mit relativ geringem Aufwand in strukturierter Form vermittelt und in die psychosomatische Grundversorgung hausärztlicher Patient:innen eingebaut werden. Für die nähere Zukunft ist geplant, das intuitive Bogenschießen als therapeutische Option für Hausärzt:innen als Kursangebot bei hausärztlichen Kongressen oder Fortbildungen (etwa der practica in Bad Orb) vorzustellen und so zu einer weiteren therapeutischen Option für psychosomatisch interessierte Hausärzt:innen beizutragen.


Literatur:
1. Meyer Th, Meyer E, Meyer F. Zu sich selbst finden. Kraft aus Pfeil und Bogen schöpfen. Der Allgemeinarzt 2016; 16: 100-101
2. Meyer Th. Ganzheitliches Erleben und aktive Entspannung durch intuitives Bogenschießen. Entspannungsverfahren 2020; 37: 143-149
3. Meyer Th, Meyer E, Meyer F. Intuitives Bogenschießen. Da machen auch Männer gerne mit. Doctors I today 2021; 9: 2-5
4. Eipel L. (2021) Kann kursorisch und strukturiert angebotenes intuitives Bogenschießen ganzheitliches Erleben und aktive Entspannung vermitteln? Fragebogenanalyse zur Objektivierung der Wirkimpulse beim Bogenschießen. Bachelorarbeit (Studiengang Sportwissenschaft Betreuung durch H. Streicher) der Sportwissenschaftliche Fakultät des Instituts für Gesundheitssport und Public Health Universität Leipzig
5. Jakobi D. (2021) Intuitives Bogenschießen - Evaluation psychischer Faktoren und nachhaltiger Effekte im Rahmen eines Gruppenkurses. Bachelorarbeit (Studiengang Sportwissenschaft Betreuung durch H. Streicher) der Sportwissenschaftlichen Fakultät des Instituts für Gesundheitssport und Public Health Universität Leipzig
6. Upchurch DM, Johnson PJ. Gender differences in prevalence, patterns, purposes and perceived benefits of meditation practices in the United States. JWomens Health (Larchmt) 2019 ; 28(2) : 135-142
7. Cramer H. Meditation in Deutschland : Eine national repräsentative Umfrage. Complement Med Res 2019 ; 26(6) : 382-389


Autor:innen

© privat
Dr. med. Thomas Meyer

FA für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Sportmedizin
E-Mail: dr.med.thomas-meyer@gmx.de
86732 Oettingen
Dr. med. Elisabeth Meyer M. Sc. (Psychologie), Laura Eipel, B. A. & Dominik Jakobi, B.A. (Sportwissenschaften),
Dr. phil. Heike Streicher, Dr. med. Fritz Meyer
Interessenkonflikte: Die Autor:innen haben keine deklariert

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (2) Seite 63-66