Mindestens jeder Dritte leidet in seinem Leben mal unter Schwindel. Was steckt dahinter? Je nach Art und Dauer des Schwindels, den Auslösern und möglichen Begleitsymptomen lassen sich die verschiedenen Schwindelsyndrome gut unterscheiden und behandeln.

Die Diagnose der verschiedenen peripheren, zentralen und sogenannten funktionellen Schwindelsyndrome beruht auf der Kombination einer systematischen Anamnese mit einer klinischen Untersuchung der vestibulären, okulomotorischen und zerebellären Systeme sowie des Hörvermögens. Die Diagnosestellung ist durch die neuen, sehr klinisch orientierten Diagnosekriterien der Bárány Society weiter vereinfacht worden, die Sie auf folgender Website kostenlos herunterladen können: http://www.jvr-web.org/ICVD.html

Die häufigsten Schwindelformen

Im Folgenden werden die diagnostischen Kriterien und die Therapie der häufigsten peripheren, zentralen und funktionellen Schwindelsyndrome beschrieben (vgl. auch Tabelle 1).

Peripherer vestibuläre Syndrome

Bilaterale Vestibulopathie (BVP)

Leitsymptome der BVP sind bewegungsabhängiger Schwankschwindel mit Gang- und Standunsicherheit, verstärkt in Dunkelheit und auf unebenem Grund, sowie Oszillopsien beim Gehen sowie bei Kopfbewegungen. Typischerweise sind die Patient:innen im Sitzen und Liegen beschwerdefrei. Die Ätiologie ist in mehr als 50% der Fälle neurodegenerativ. Therapie der Wahl ist tägliches aktives Gleichgewichtstraining.

Akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP, Neuritis vestibularis)

Die AUVP ist gekennzeichnet durch akut einsetzenden, ohne Therapie über > 24 h anhaltenden Drehschwindel mit Oszillopsien, Fallneigung, Übelkeit, horizontal rotierendem Nystagmus (zur nicht betroffenen Seite, durch Fixation supprimierbar (Abb. 1)) sowie durch eine einseitige, peripher vestibuläre Funktionsstörung des vestibulookulären Reflexes (VOR) (Abb. 2). Ursache ist meist die Reaktivierung einer latenten HSV-1-Infektion. Die Therapie basiert auf drei Prinzipien: vorübergehend Kortison zur Reduktion der Nervenschwellung, Betahistin (> 3 x 96 mg/d) zur Verbesserung der Symptome und der zentralen Kompensation und tägliches Gleichgewichtstraining für vier Wochen.

Benigner peripherer paroxysmaler Lageschwindel (BPPV)

Das Leitsymptom des BPPV sind rezidivierende, durch Lageänderungen des Kopfes relativ zur Schwerkraft ausgelöste, Sekunden anhaltende Drehschwindelattacken. Ursache sind frei bewegliche Otokonien im meist posterioren Bogengang. Bei korrekter Durchführung lassen sich alle Patient:innen mittels Befreiungsmanövern erfolgreich behandeln (Abb. 3).

Morbus Menière (MM)

Die aktuellen diagnostischen Kriterien sind wie folgt: zwei oder mehr Schwindelattacken von 20 Minuten bis zwölf Stunden Dauer, nachgewiesene Hörminderung (< 2.000 Hz, mindestens -30 dB), assoziiert mit den Schwindelattacken, und fluktuierender Tinnitus oder Ohrdruck im betroffenen Ohr. Haben Patient:innen mehr als zwei Schwindelattacken pro Monat, ist eine prophylaktische Langzeitbehandlung z. B. mit > 3 x 96 mg/d Betahistin indiziert.

Vestibularisparoxysmie (VP)

Die Diagnose lässt sich stellen, wenn Patient:innen mindestens zehn Sekunden bis zu einer Minute dauernde, spontan auftretende, relativ gleichförmig ablaufende Schwindelattacken beschreiben und auf eine Behandlung mit Carbamazepin, Oxcarbazepin oder Lacosamid in adäquater Dosis ansprechen, also ex juvantibus.

Tabelle 1: Anamnese - Die vier wichtigen Unterscheidungskriterien der verschiedenen Schwindelsyndrome zusammengefasst
a) Die Dauer der Symptome
  1. Schwindelepisoden über
  2. Sekunden bis wenige Minuten: z.B. BPPV, Vestibularis- paroxysmie (VP), orthostatischer Schwindel, TIA
  3. viele Minuten bis Stunden: z.B. Morbus Menière (MM), VestibuläreMigräne (VM)
  4. Akut einsetzende, über Tage bis wenige Wochen anhaltende Symptome: "akutes vestibuläres Syndrom": akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP) oder Hirnstamm-/oder Kleinhirninfarkt
  5. >3 Monate anhaltende Symptome: z.B. bilaterale Vestibulopathie (BVP), funktioneller Schwindel (FS), neurodegenerative Erkrankungen

b) Die Art des Schwindels
  1. Drehschwindel, z.B. BPPV, AUVP
  2. Schwankschwindel, z.B. BVP, FS

c) Auslösbarkeit/Modulierung
  1. Schwindel spontan auftretend, z.B. MM, VP, VM
  2. Schwindel
  3. beim Gehen, z.B. BVP, FS
  4. Kopflageänderung relativ zur Schwerkraft, z.B. BPPV
  5. in bestimmten sozialen Situationen wie Menschenmengen, Kaufhaus, z.B. FS

d) Mögliche Begleitsymptome
  1. "Otogene" Symptome: z.B. MM
  2. Potenzielle Hirnstamm-/Kleinhirnsymptome
  3. Episodischer Kopfschmerz und/oder Licht- oder Lärmempfindlichkeit, typisch für VM


Zentrale vestibuläre Syndrome

Zentrale vestibuläre Syndrome können sich manifestieren als: a) akutes zentrales vestibuläres Syndrom (AZVS), Schwank- oder Drehschwindel, meist durch eine Ischämie in Hirnstamm oder Zerebellum; b) rezidivierende Attacken wie bei der VM oder c) persistierendes Syndrom wie beim "zerebellären Schwindel". Bei V.a. auf ein AZVS sollte eine sofortige Einweisung in eine neurologische Klinik erfolgen.

Vestibuläre Migräne (VM)

Die VM ist die häufigste Ursache für rezidivierende, spontan auftretende Schwindelattacken. Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien ist diese wie folgt definiert: Mindestens fünf Episoden mit vestibulären Symptomen mittlerer oder starker Intensität und einer Dauer von 5 min bis 72h, aktive oder frühere Migräne mit oder ohne Aura sowie ein/mehrere Migränesymptome während mindestens 50 % der vestibulären Episoden. Die Behandlung entspricht der Behandlung anderer Migräneformen.

"Zerebellärer Schwindel"

Persistierende Schwindel- und Gleichgewichts- und Gangstörungen infolge zerebellärer Erkrankungen sind eine besondere diagnostische Herausforderung. Der Schlüssel zu dieser Diagnose ist die Untersuchung der Augenbewegungen, da praktisch alle Patient:innen mindestens eine zerebelläre Okulomotorikstörung vorweisen, wie sakkadierte Blickfolge, allseitigen Blickrichtungsnystagmus und insbesondere Downbeat-Nystagmus. Die Diagnose "zerebellärer Schwindel" ist wichtig, da sich viele Formen medikamentös behandeln lassen, z.B. mit 4-Aminopyridin oder Acetyl-DL-Leucin.

Tabelle 2: Untersuchung des vestibulären Systems - Die vier wichtigsten Aspekte der körperlichen Untersuchung des vestibulären Systems
  1. Untersuchung auf einen Spontannystagmus mit Fixation und mittels der Frenzel- oder M-Brille (Abb. 1).
  2. Kopfimpulstest nach Halmagyi zur Diagnose eines ein- oder beidseitigen Funktionsdefizits des VOR (Abb. 2).
  3. Lagerungsmanöver mit der Frage nach einem BPPV, diebei jeder Patient:in unabhängig von der Anamnese durchgeführt werden sollen (Abb. 3).
  4. Untersuchung des Stand- (Romberg-Test) und Gehvermögens mit offenen/geschlossenen Augen und verschiedenen Schwierigkeitsgraden (Füße nebeneinander, Tandem-Romberg, Stehen auf einem Bein), insbesondere mit der Frage nach sensorischen Defiziten der vestibulären und/oder somatosensorischen Systeme.


Funktioneller Schwindel (FS)

Der FS ist die häufigste Schwindelform, insbesondere beim jungen Erwachsenen. Dazu gehören der Phobische Schwankschwindel und ,,Persistent postural-perceptual dizziness". Leitsymptom ist persistierender Schwank- und Benommenheitsschwindel, der sich in bestimmten Situationen wie Menschenansammlungen oder Kaufhäusern verstärkt und häufig beim Sport und nach leichtem Alkoholgenuss geringer ausgeprägt ist und zu Vermeidungsverhalten führen kann. Betroffen sind oft Menschen mit einer perfektionistischen Primärpersönlichkeit. Zur Behandlung des funktionellen Schwindels wird meist eine individualisierte Kombination verschiedener Therapieverfahren (Psychoedukation, medikamentöse Behandlung, insbesondere SSRI/SNRI, und/oder kognitive Verhaltenstherapie) empfohlen.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Bei Schwindel gilt es, Art, Dauer, Auslöser und Begleitsymptome (z.B. Hörstörung, Kopfschmerz) zu erfragen.
  • Bei jeder Patient:in mit Schwindel sollte ein diagnostisches Lagerungsmanöver durchgeführt werden.
  • Bei V.a. akutes zentrales vestibuläres Syndrom sollte eine Einweisung in eine neurologische Klinik erfolgen.


Literatur:
1. Strupp M, Brandt T, Dieterich M (2022) Vertigo - Leitsymptom Schwindel. Springer, Heidelberg
2. Strupp M, Dlugaiczyk J, Ertl-Wagner BB, Rujescu D, Westhofen M, Dieterich M (2020) Vestibular Disorders. Dtsch Arztebl Int 117:300-310
Weitere aktuelle Literatur kann gerne beim Verfasser angefragt werden: Michael.Strupp@med.uni-muenchen.de


Autor

© privat
Univ. Prof. Dr.med. Dr. h.c. Michael Strupp

Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum
Klinikum der Universität München
Campus Großhadern, 81377 München

Interessenkonflikte: M. Strupp ist Mit-Herausgeber des "Journal of Neurology" und von "F1000", zudem Chef-Herausgeber von "Chief of Frontiers of Neurootology". Er hat Referentenhonorare erhalten von Abbott, Auris Medical, Biogen, Eisai, Grünenthal, GSK, Henning Pharma, Interacoustics, J&J, MSD, NeuroUpdate, Otometrics, Pierre-Fabre, TEVA, UCB und Viatris. Er hat Forschungs-Unterstützung erhalten von Decibel, U.S.A., Cure within Reach, U.S.A. and Heel, Deutschland. Er vertreibt "M-glasses" und die "Positional vertigo App". Er übt eine Beratertätigkeit aus für Abbott, AurisMedical, Bulbitec, Heel, IntraBio, Sensorion und Vertify. Er besitzt Aktien von IntraBio.



Erschienen in: doctors|today, 2023; 4 (4) Seite 12-14