Bleibende oder neue chronische Beschwerden und Beeinträchtigungen nach COVID-19-Erkrankung führen bei den Betroffenen zu einer gravierenden Beeinträchtigung von Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Die Symptome des Long-COVID-Syndroms betreffen zahlreiche Funktionsebenen und Organsysteme. Pathophysiologie und Ursache sind bis jetzt noch nicht vollständig verstanden. Viele Therapieansätze bewegen sich noch im experimentellen Bereich. Maßnahmen der auf Long-COVID abgestimmten Rehabilitation sind etabliert und wirksam.
Die meisten von COVID-19 Betroffenen erholen sich insgesamt erfreulich von der Erkrankung. In 10 – 15 % (6 – 50 %) der Fälle kann es aber vorkommen, dass nach der ersten Erholung neue Symptome und Beeinträchtigungen auftreten oder dass Betroffene sich überhaupt nicht richtig von der COVID-19-Erkrankung erholen [1, 2]. Hier gilt dann: "Genesen heißt nicht gesund!" [3]
In einem Leitartikel des New England Journal of Medicine vom 12. August 2021 wurde von den namhaften Autorenaus Harvard und Washington eine Long-COVID-Epidemie vorhergesagt, die allein in den USA über 15 Millionen Menschen betreffen könnte und die als die drohende nächste Katastrophe für unser Gesundheitssystem bezeichnet wurde ("next public health disaster in the making" [4]).
Definition, Ursachen, Symptome
Die Definition des Long-COVID-Syndroms ist uneinheitlich. Nach verschiedenen Leitlinien [5, 6] kann davon ausgegangen werden, dass Symptome und Beeinträchtigungen, die vor der COVID-19-Erkrankung nicht vorhanden waren und deutlich länger als drei Monate nach der COVID-19-Erkrankung vorhanden sind und keine andere Erklärung haben, dem Long-COVID-Syndrom zuzuordnen sind.
Die Ursache und Pathophysiologie des Long-COVID-Syndroms ist bis jetzt nicht geklärt. Autoimmunologische Ursachen sind am wahrscheinlichsten. Alternativ werden chronische mikrothrombotische Prozesse, Langzeitwirkungen eines Eiweißes des SARS-CoV-2-Virus (Mpro) im Zentralnervensystem, eine verzögerte Rückbildung der Krankheitsschäden, seelische Störungen der Krankheitsverarbeitung und allgemeine psychosomatische Störungen vermutet. Die meisten diagnostischen technischen Untersuchungen bei Long-COVID-Syndrom bleiben ergebnislos. Ein diskriminierender Laborwert zum Nachweis oder Ausschluss des Long-COVID-Syndroms wurde bis heute nicht gefunden [1].
Auffällig am Long-COVID-Syndrom ist die Tatsache, dass die chronischen Beeinträchtigungen nicht unbedingt identisch sind mit den Beeinträchtigungen im akuten Verlauf der COVID-19-Erkrankung. Weiterhin auffällig ist die Tatsache, dass nicht nur Patient:innen mit sehr schwerem intensivpflichtigem Verlauf später an Long-COVID erkranken, sondern auch viele Patient:innen mit leichtem ambulantem Akutverlauf [7].
Die Symptomatik von Long-COVID ist vielschichtig. Pulmonale Symptome machen dabei, besonders nach mildem akutem Verlauf, nur einen geringen Anteil des Symptomkomplexes aus [8]. Im Vordergrund der Long-COVID-Symptomatik stehen nach unserer Erfahrung häufig neurologische, neurokognitive, muskuläre, vegetative und seelische Symptome. Haarausfall, Vergesslichkeit, Schluckstörungen, Tachykardie, Schlafstörungen und polyneuropathische Beschwerden sind nur einige der zahlreichen Symptome beim Long-COVID-Syndrom.
Kardiologische Besonderheiten
Aus kardiologischer Sicht interessant bei der Betreuung von Patient:innen mit Long-COVID-Syndrom sind vor allem folgende Fragen:
- Besteht eine chronische Herzmuskelbeteiligung? Bei entsprechender Symptomatik kann nach hiesiger Auffassung durch die Bestimmung der Laborwerte NT-proBNP und Troponin, durch die Echokardiografie, durch den mangelnden Anstieg des Schlagvolumens in der Spiroergometrie, vor allem aber in der Kardio-MRT-Untersuchung Klarheit geschaffen werden [9, 10].
- Besteht eine thromboembolische Vorgeschichte bzw. eine anhaltende prothrombotische Diathese? Hier kann mit bildgebenden Verfahren wie Duplex und mit Bestimmung des Laborwertes D-Dimer sowie bei bestimmten Risiko-Scores ermittelt werden, ob unter Umständen eine Thrombozyten-funktionshemmende oder antikoagulatorische Therapie indiziert sein könnte [11, 12, 13].
- Systematische Blutdruckerhöhungen nach COVID-19-Erkrankung sind seltener als zu erwarten, insbesondere, weil das SARS-CoV-2-Virus mit dem Angiotensin-2-Rezeptor interagiert und dadurch durchaus Effekte auf die Blutdruckregulation zu erwarten wären [14, 15].
- Im Rahmen der vegetativen Verschiebungen beim Long-COVID-Syndrom sind häufig inadäquate Sinustachykardien zu beobachten. Die überwiegend weiblichen Patienten haben zum Teil bereits per se niedrigen Blutdruck und sind dadurch für eine Betablockade ungeeignet. Hier hat sich in Einzelfällen die Gabe von Ivabradin als hilfreich erwiesen [16, 17, 18].
Therapeutische Ansätze
Die Therapie des Long-COVID-Syndroms steckt immer noch in den Kinderschuhen. Die Deutsche S1-Leitlinie zum Long-COVID-Syndrom von 2021 [6] empfiehlt im Wesentlichen eine symptomatische Therapie der verschiedenen Symptome entsprechend den Leitlinien der zuständigen Fachgesellschaften.
Experimentelle erste Beobachtungen und anekdotenhafte Berichte liegen vor, z. B. für Kortikosteroide, Colchicin [19], Vitamin-Substitution, zusätzliche COVID-19-Impfungen [20], Blutwäscheverfahren wie Apherese [21], Überdruck-Sauerstofftherapie HBO [22] und intermittierende Hypoxie-Hyperoxie (IHHT) [23, 24].
Besondere Aufmerksamkeit in den Medien hat die Anwendung eines kardiologischen Rezeptor-Hemmstoffes mit dem Namen BC007 bei Long-COVID-Patient:innen gefunden. Eine Berliner Arbeitsgruppe konnte bereits in den 90er-Jahren zeigen, dass das Aptamer BC007 zahlreiche kardiovaskulär-pathogene Autoantikörper neutralisieren konnte [25]. In der Augenklinik der Universität Erlangen erkannte man vor etwa 5 Jahren, dass BC007 auch bei Glaukom wirksam ist. Bei Anwendung von BC007 bei Glaukompatient:innen mit Long-COVID-Syndrom wurden überraschend günstige Effekte auf die Symptomatik beobachtet. Der erste Einsatz von BC007 bei einem Augenpatienten mit typischer Long-COVID-Symptomatik war ein voller Erfolg und wurde von den Medien entsprechend gefeiert [26]. Nach weiteren erfolgreichen Einsätzen von BC007 bei Patient:innen mit Long-COVID-Syndrom und fast völliger Remission der Symptomatik wurde ein Forschungsprogramm zum BC007 entwickelt, welches von der Bundesregierung finanziell maßgeblich unterstützt wird. Man darf gespannt sein auf die ersten Zwischenergebnisse der reCOVer und disCOVer Studien [27].
Rehabilitation – wie geht das?
Am besten erforscht hinsichtlich der Therapie bei Long-COVID-Symptomatik sind die Effekte einer interdisziplinären spezifischen Rehabilitationsbehandlung, wie sie bereits in Deutschland und zahlreichen Standorten angeboten wird [28, 29, 6, 30, 31]. In der MEDIAN Klinikgruppe wurde bereits im Frühjahr 2020 ein Rehabilitationskonzept für die Nachsorge der akuten COVID-19-Erkrankung entwickelt und erprobt. Seit Anfang 2021 werden auch Rehabilitationskonzepte zur Behandlung von Long-COVID bisher an über 3.000 Rehabilitandenmit Erfolg angewendet. Beispielhaft werden hier die Rehabilitationsansätze der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba vorgestellt.
Wesentliche Elemente der interdisziplinären Long-COVID-Reha sind:
- Interdisziplinäre Aufnahme/Datenerhebung
- Symptom-Checker
- Strukturierte Patientenberichte
- Spiroergometrie
- Psychologische bzw. psychosomatische Vorstellung/Therapie
- COVID-Gesprächskreis
- PC-gestütztes Konzentrationstraining
- Muskelaufbau und Ausdauertraining
- Sauerstoffmanagement bei Bedarf
- Pacing nach Scheibenbogen bei PEM-Symptomatik
- Intensives selbstständiges gerätegestütztes Atemtraining
- Innovative Sauerstofftherapie IHHT
- Empirische probatorische Medikamentengabe (Steroide? Colchicin?)
- Verweis auf die eigene Long-COVID-Website www.long-covid.de
- Anbindung an die digitale Selbsthilfegruppe https://long-covid.me
Im Rahmen der interdisziplinären Patientenaufnahme und Datenerhebung muss deutlich werden, ob der/die Betroffene bereits eigene Kompensationsmechanismen entwickelt hat, um die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität zu verbessern. Häufig berichten Betroffene einen anhaltend verminderten Leistungszustand seit Monaten trotz aller Bemühungen. Viele Betroffene beschreiben, dass ihre Lebensqualität sich seit COVID-19 um etwa 50% vermindert hätte, meist verbunden mit hohem Leidensdruck.
Die strukturierte Befunderhebung (Symptom-Checker) hilft dem Rehateam zu verstehen, wo die Schwerpunkte der Beeinträchtigung liegen (muskulär, pulmonal, vegetativ, psychisch, neurokognitiv, konzentrativ, seelisch, sozial usw.).
In unserer Einrichtung werden Long-COVID-Betroffene psychologisch evaluiert, bei Bedarf psychosomatisch oder psychiatrisch vorgestellt, von dort wird gegebenenfalls die neurokognitive Therapie und das Gedächtnistraining koordiniert.
Wöchentliche Gesprächskreise von Betroffenen haben positive gruppendynamische Effekte und zeigen Long-COVID-Erkrankten, dass sie nicht allein sind.
Viele COVID-Erkrankte haben während der Erkrankung erheblich an Muskulatur und Ausdauer eingebüßt. Konsequentes muskuläres Aufbautraining ist erforderlich. Dies betrifft insbesondere die Atemmuskulatur.
Die intermittierende Hypoxie-Hyperoxie-Therapie IHHT wird im Rahmen einer Studie mit der Charité Berlin auch in unserer Einrichtung erfolgreich bei Long-COVID-Betroffenen eingesetzt. Hierbei wird nach individueller Kalibrierung des Systems vorübergehend die Sauerstoffzufuhr über einige Minuten beeinträchtigt (z.B. bis zu einer peripheren Sättigung von 82%), danach wird für einige Minuten ein Sauerstoff-Überangebot eingeatmet. Die positiven Wirkungen dieser Therapie, die über vier Wochen dreimal in der Woche angewendet wird, betreffen nicht nur pulmonale Parameter, sondern auch kognitive, vegetative und neurologische Symptome.
Um die Nachsorge von Long-COVID-Patient:innen zu verbessern, wurde von uns im Frühjahr 2021 eine Website für Fachleute und Betroffene aufgebaut, auf der sich umfangreiche Fallberichte, Informationen, Leitlinien und alltagsbezogene Empfehlungen für Betroffene und Fachleute finden (www.long-covid.de). Zudem existiert eine digitale Selbsthilfegruppe (https://long-covid.me).
- Die Symptomatik des Long-COVID-Syndroms ist äußerst vielgestaltig.
- Die Therapie steckt noch in den Kinderschuhen.
- Eine Rehabilitation sollte viele Einzelelemente umfassen und strukturiert ablaufen.
Dr. Christoph Altmann, MBA
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (12) Seite 14-17