Muskelverletzungen zählen zu den häufigsten Verletzungen des körperlich aktiven Menschen. Die Muskulatur ist ein hochkomplexes kontraktiles Organ und verfügt über ein beeindruckendes Regenerations- und Heilungspotential. Die meisten Verletzungen heilen innerhalb weniger Wochen folgenlos aus. Verspätet diagnostiziert kann es jedoch auch zu erheblichen und schwerwiegenden Komplikationen und Einschränkungen kommen.
Für viele Patient:innen ist die hausärztliche Praxis die erste Anlaufstelle bei muskuloskelettalen Beschwerden. Wichtig sind daher Kenntnisse zu Diagnostik und Behandlung sowie insbesondere zu potenziell schwerwiegenden Verläufen oder drohenden Komplikationen.
Akute und überlastungsbedingte Verletzungen der Skelettmuskulatur gehören im Leistungs- und Breitensport zu den häufigsten muskuloskelettalen Beschwerdebildern. Doch nicht nur junge Sportler:innen sind betroffen: Durch den zunehmenden Sport- und Aktivitätsanspruch älterer Personen finden sich diese Verletzungen bei nahezu allen Bevölkerungsgruppen. Bewegungsmuster mit schnellen und kräftigen Beschleunigungs- und Abbremsphasen (Antritt, Abstoppen, Richtungswechsel, "Ausrutschen") in Interaktion mit stoffwechselbedingten oder neuromuskulären Ermüdungsbedingungen weisen das größte Verletzungsrisiko auf. Die Versorgung von Muskelverletzungen gilt als anspruchsvoll und umfasst die schnelle und adäquate Erstversorgung ("On-field Management"), eine zeitnahe, sorgfältige Diagnostik, die stadiengerechte Therapie sowie eine konsequente Rehabilitation und Prävention. Im Leistungs- und Spitzensport haben diese Maßnahmen das Ziel, eine zeitnahe und sichere Wiedererlangung der Trainings- und Wettkampffähigkeit zu ermöglichen und dabei das individuelle Rezidiv-Verletzungsrisiko zu reduzieren [1]. Für die Versorgung von Patient:innen ohne Leistungssportanspruch gilt dennoch, schwerwiegende Verläufe und drohende Komplikationen zu erkennen und diese einer orthopädischen und ggf. chirurgischen Weiterbehandlung zuzuführen.
Klassifikation von Muskelverletzungen
Die Terminologie und Klassifikation von Muskelverletzungen sind bis dato nicht einheitlich definiert. Übergänge und Wechselwirkungen zwischen physiologischer Ermüdung und Verletzungen sind fließend [1, 2]. Grundsätzlich werden indirekte Verletzungen (resultierende endogene Kontraktionskraft ist größer als die mechanische Belastbarkeit) und direkte Verletzungen (äußere, mechanische Krafteinwirkung übersteigt die Belastungs- und "Widerstandsfähigkeit" des Muskelgewebes, z.B. Prellung, Pferdekuss) unterschieden. Zu den bekanntesten "echten", jedoch milden Verletzungsformen zählt der Muskelkater. Für diese indirekte Muskelverletzung, Typ 1b nach Müller-Wohlfahrt [3], konnten mittels elektronenmikroskopischer Verfahren ultrastrukturelle Verletzungen auf Sarkomerebene nachgewiesen werden [4]. Die Verletzung wird, mit zeitlichem Abstand zur zumeist ungewohnten Belastung, als sehr schmerzhaft empfunden (Gipfel nach 14 bis 48 h) und heilt nach vier bis fünf Tagen ohne Residuen aus. Bei Muskelzerrungen und Muskelbündelrupturen findet sich, je nach Größe und Ausmaß, eine strukturelle Kontinuitätsunterbrechung ("Gewebszerreißung") der hierarchisch organisierten Faser- und Bündelstrukturen mit einhergehenden Rupturzonen und Einblutungen. In Anbetracht der Lokalisation können die Verletzungen die Ansatzregion (streng genommen Sehnenverletzungen), den muskulotendinösen Übergang oder den Muskelbauch betreffen. Direkte Muskelverletzungen (Kontusionen, Prellungen) führen oftmals zu einer diffusen Parenchymschädigung und können in Verlängerung der Kraftrichtung gleich mehrere Muskelgruppen betreffen. Bei erheblicher Schwellneigung und Einblutung können sie bis zu einem manifesten Kompartmentsyndrom fortschreiten und einen echten medizinischen Notfall darstellen.
Exzentrische Muskelarbeit (Verlängerung des Muskels unter dessen aktiver Kontraktion, z. B. beim Abfedern eines Sprungs) stellt eine hochanfällige Phase für das Auftreten von indirekten Muskelverletzungen dar [5]. Ein verändertes biomechanisches Belastungsprofil und eine möglicherweise gestörte neuromuskuläre Feinkoordination scheinen eine mögliche Ursache für die hohe Inzidenz von Verletzungen während der exzentrischen Arbeitsweise zu sein [1, 6, 7].
Erstversorgung
Bedingt durch den charakteristischen Aufbau der terminalen Strombahn weist die Skelettmuskulatur eine enorme Perfusionskapazität auf. Zum Zeitpunkt der Verletzung (in der Regel körperliche Belastung) ist die Gewebsperfusion besonders hoch. Bei Gewebsquetschungen oder Zerreißungen des Muskelparenchyms sind unweigerlich Verletzungen der empfindlichen terminalen Strombahn die Folge. Für die Erstversorgung von Muskelverletzungen gilt die bekannte PECH/PRICE-Regel [8, 9]. Die kombinierten Verfahren des Belastungsabbruchs (Pause, Protection, Rest), Kühlung (Eis, Ice), Kompression (Compression) und Hochlagerung (Elevation) gelten als Maßnahmen der 1. Wahl, um eine intramuskuläre Einblutung und das Fortschreiten der Verletzung zu verhindern.
Und wenn es doch zu einer Einblutung kommt ...?
Bei Vorliegen von strukturellen Verletzungen sind intramuskuläre Hämatome (Abb. 1 und 2) trotz erfolgter Initialtherapie nicht vollständig zu verhindern [10 – 12]. Ein Hämatom mit einhergehendem Zelldebris muss bekanntlich zunächst von ortsständigen Zellpopulationen im Rahmen eines komplexen proinflammatorischen Prozesses resorbiert werden, bevor physiologische Reparationsmechanismen optimal ablaufen können [13, 14]. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, intramuskuläre Hämatome unter sterilen Bedingungen zu punktieren. Die Indikation hängt von der Lokalisation, dem Alter, aber auch von der Beschaffenheit des Hämatoms (umschrieben oder diffus) ab. Zur Beurteilung hat sich die Sonographie als wertvolles bildgebendes Mittel bewährt (Abb. 3). So kann die Punktion sonographieunterstützt oder -gesteuert (simultane Positionskontrolle der Punktionskanüle) durchgeführt werden [1, 15 – 17].
Merke: Der Befund eines "Hämatoms" darf bei entsprechendem Traumamechanismus nicht isoliert betrachtet werden. Das Hämatom jeglicher Größe (intramuskulär lokalisiert oder Suffusion) stellt einen Begleitbefund dar, der auch bei nahezu allen schwerwiegenden oder potenziell komplikationsbehafteten Muskelverletzungen (z. B. Sehnen(ab)riss, drohendes Kompartmentsyndrom) vorzufinden ist. Das zugrundeliegende Ausmaß der Verletzung sollte stets abgeklärt werden und die Patient:in einer Fachärzt:in für Orthopädie und Unfallchirurgie vorgestellt werden.
Sofern ein (manifestes) Kompartmentsyndrom vorliegt, ist die Indikation zur notfallmäßigen Fasziotomie großzügig zu stellen. Hierbei geht es nicht um die Optimierung der Muskelheilung, sondern schlichtweg um den Erhalt der betroffenen Extremität [1]. Die Patient:in muss unbedingt notfallmäßig an chirurgische Versorgungsstrukturen weitergeleitet werden.
Die übersehene Sehnenruptur
Sehnenverletzungen stellen alles andere als "Bagatellverletzungen" dar. Symptome und klinische Befunde sind nicht immer eindeutig und Patientenäußerungen wie "nach kurzzeitig starken Schmerzen habe ich eine schnelle Besserung verspürt" können irreführend sein und über die Verletzungsschwere hinwegtäuschen.
Sehnenrisse können an vielen Lokalisationen auftreten. Neben den klassischen Vertretern wie den Achilles-, Patellar-, Quadriceps- oder Bicepssehnenrupturen sind auch Verletzungen der Beckenregion gelegentlich vorzufinden und können u.a. unter funktionellen Gesichtspunkten von erheblicher Schwere sein. Sehnenverletzungen können zu folgenreichen Einschränkungen der Geh-, Steh- und Sitzfähigkeit führen und sollten einer zeitnahen orthopädisch-chirurgischen Behandlung zugeführt werden. Eine falsche oder verzögerte Diagnosestellung (bereits mehr als drei Tage nach Trauma) ist prinzipiell mit einem schlechteren Outcome verbunden – unabhängig davon, ob eine spätere operative oder nichtoperative Therapie eingeleitet wird.
Merke: Ein messerstichartiger Schmerz, ein peitschenartiger Knall, ein sofortiger Kraftverlust mit Verlust der Funktionalität sind bereits anamnestische Hinweise für eine schwerwiegende Muskel-Sehnenverletzung. In diesem Fall sollte eine Sehnenruptur unbedingt aufgedeckt oder ausgeschlossen werden. Bei Unsicherheiten oder unklaren Fällen ist die Vorstellung bei einer Fachärzt:in für Orthopädie und Unfallchirurgie sinnvoll.
- Ein Hämatom darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Begleitbefund bei höhergradigen Muskel- oder Sehnenverletzungen.
- Ein Kompartmentsyndrom stellt einen Notfall dar.
- Eine übersehene Sehnenverletzung bzw. verzögerte Diagnostik führen schnell zu einem schlechteren Outcome.

PD Dr. Thilo Hotfiel (Foto)
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (5) Seite 20-22