Dr. Kathrin Wellnitz ist als Ärztin in einer Hausarztpraxis festangestellt, die von einem hybriden Gesundheitsanbieter betrieben wird. Der Clou: Es handelt sich um "ihre" Praxis – die Praxis, die sie zuvor lange Jahre selbstständig betrieben hat.

Heute ist sie hier als angestellte Hausärztin tätig und die Praxis wurde dabei Teil eines MVZ. Wie kam es dazu und was hat das Ganze mit Digitalisierung zu tun?

Die Allgemeinmedizinerin Dr. Kathrin Wellnitz war seit 1997 und damit rund 26 Jahre mit ihrer eigenen Hausarztpraxis in Hellersdorf (Berliner Bezirk) selbstständig. Trotz der vielen Herausforderungen, denen man sich in einer niedergelassenen Praxis stellt, mit ihrem Beruf und ihrer Berufung im Einklang. Über die Jahrzehnte kamen immer mehr Belastungen hinzu, wie die administrative Aufgaben, die viel Zeit der Ärzteschaft in Anspruch nahm, obwohl man sich lieber den "eigenen Patient:innen" widmen würde. Zuletzt kam dann noch die Praxis-Digitalisierung on top.

Viele Praxisinhaber:innen ächzen heute zusätzlich unter dem verschärften Personalmangel, durch den das eigene Team immer höher belastet wird und durch den zwangsweise weitere Aufgaben auf die jeweiligen Inhaber:innen zukommen, z. B. im Rahmen der immer schwierigeren Stellennachbesetzungen. Dabei hätte doch spätestens die Corona-Pandemie genügt, um die Stimmung in der Praxis an den Siedepunkt und das Fass zum Überlaufen zu bringen. So manche Praxisinhaber:in, die alterstechnisch die 60-er Grenze überschritten hat, dürfte sich also aktuell die Frage nach dem nahenden Ruhestand stellen und damit die Sorge mit sich herumtragen, wie es für das Praxisteam und die Patienten weitergehen kann. Ähnlich war auch die Entwicklung bei Dr. Wellnitz: Der Weg, den sie für Ihre Praxis, ihr Team und "ihre Patient:innen" gefunden hat, ist jedoch ein nicht ganz typischer.

Schwierige Nachfolge

Hellersdorf ist der letzte Neubaubezirk, der noch zu DDR-Zeiten gebaut wurde. Eigentlich ein sehr schöner Bezirk, maximal sechs Geschosse, viel Grün, mit einem sehr angenehmen Patienten-Klientel. Dr. Wellnitz bringt das so auf den Punkt: "Ich arbeite hier nach wie vor sehr, sehr gerne. Von außen wird der Bezirk gerne stigmatisiert, aber er ist eigentlich schön durchmischt. Leider aber auch nicht gerade attraktiv für junge Mediziner:innen, die sich für eine Niederlassung interessieren. Heute hat man als Jung-Ärzt:in unendliche Möglichkeiten und wenn man an jedem Finger quasi eine Praxis zur Auswahl hat, dann ist Hellersdorf nicht der Bezirk der Wahl." In den fast 26 Jahren, die sie ihre Praxis hier selbstständig betrieben hat, haben mehr Praxen von hausärztlichen Kolleg:innen zugemacht, als dass Praxen übernommen wurden. Allein im letzten Jahr hat Hellersdorf wieder zwei Hausarztpraxen verloren. "Wobei man dazu sagen muss, dass wir in der Hausarztpraxis mit überdurchschnittlichen Patientenzahlen arbeiten. Wenn jetzt zwei Hausarztpraxen schließen, dann sind rund 2.500 Leute ohne Hausarzt. In diesem Jahr bahnt sich das schon wieder an."

Die Lücke wird immer größer
Bis 2035 sollen laut Robert Bosch Stiftung in Deutschland rund 11.000 Hausärzt:innen fehlen. Bereits 2019/2020 waren bundesweit 3.570 Hausarztsitze im Jahr unbesetzt. Das sind 6 % aller planmäßigen Sitze. Die Corona-Pandemie hat dazu beigetragen, die Situation weiter zu verschärfen. Während man aufseiten der politischen Entscheider an der Krankenhaus-Front immerhin damit kämpft, wirtschaftliche Lösungen zu finden, scheint die niedergelassene Hausarztpraxis hier völlig aus dem Fokus verschwunden. Die Folgen für die einzelnen Patient:innen durch eine mangelnde Primärversorgung vor Ort - nicht nur im ländlichen Raum - könnten verherend sein.

Quelle: Gesundheitszentren für Deutschland, 2021

Gesucht: Ein zukunftsfähiges Konzept

Vor diesem Hintergrund wurde der Hausärztin klar: Es muss eine zukunftssichere Lösung für die Zeit nach ihr als Praxisinhaberin gefunden werden. "Ich bin über 60 und wollte rechtzeitig schauen, wie es für meine Patient:innen weitergehen kann. Bei uns in der Praxis stehen immer wieder Menschen weinend am Tresen und klagen, sie seien jetzt schon in der zehnten Praxis, wo es keine Kapazitäten für Neu-Patient:innen gibt. Das wird mit der Schließung weiterer Praxen noch schlimmer werden. Gleichzeitig ist man als Hausarzt mit seinen Patient:innen sehr verwoben, ich kenne die Familien und ihre Geschichten. Es ist eine Horrorvorstellung daran zu denken, irgendwann schließe ich die Praxis zu, wenn ich nicht mehr kann, wenn ich in Rente gehen will. Das kann ich "meinen" Patient:innen doch nicht antun!"

Wellnitz wendete sich an verschiedene Anbieter, die Praxen vermitteln. Für viele war die Hausarztpraxis in Hellersdorf den Weg nicht wert. "Einer ist dann tatsächlich zu mir in die Praxis gekommen und hat sich das Ganze selbst angeschaut. Und er war erstaunt über die guten Umsatzzahlen, die wir uns erarbeitet haben, meinte aber auch direkt: Verkaufen lässt sie sich nicht, weil es sich um einen offenen Bezirk handelt, da kann jeder hingehen. Selbst die KV wollte bei uns in Hellersdorf Praxen aufmachen und fand bisher keine Möglichkeit, diese Praxen zu etablieren."

Zu dieser Zeit fing der eHealth-Anbieter doktor.de an, sich in Deutschland zu engagieren, und in diesem Zuge wurden Anfragen an Praxen versendet. Ein solches Schreiben erreichte die Hausärztin über das Fax in ihrer Praxis. "Ich habe mir das näher angeschaut und hatte mich ja eh schon mit dem Thema Praxisübergabe beschäftigt. Aus einem "Testballon" heraus − Mensch, das könntest du doch einmal probieren mit einer soclhen Praxisübergabe − hat sich dann alles sehr gut gefügt. "Gerade in der Pandemie-Phase wollte man als Hausarzt viele Patient:innen eigentlich gar nicht in der Praxis haben. Die Praxis ist stets recht voll, so dass der Warteraum manchmal wie ein Feldlager aussah. In der Pandemie hätte ich mir die digitale Sprechstunde gewünscht, aber ich bin eben auch ein Einzelkämpfer. Ich hatte so viel zu tun mit den medizinischen Fragen, dass ich überhaupt nicht in der Lage war, gerade jetzt eine Videosprechstunde in der Praxis an den Start zu bringen. Ich habe zu der Zeit viel mehr telefonisch erledigt, dabei ist mir aber auch erneut klar geworden, wie wichtig diese Option für Ärzt:innen — und für die Patient:innen − ist. Ich hätte mir z. B. gewünscht, dass sich einer Patient:in das Handy an den Mund halten kann, damit ich bei Verdacht auf eine Mandelentzündung auch über ein Bild zur möglichen Diagnose komme.". Das ist einfach viel aussagekräftiger als ein Kontakt am Telefon." Und die Patient:innen nehmen es mehr als gut an: "Es ist heute schon so, dass es meine Patient:innen es recht spannend finden, wenn ich mal nicht da bin und sie sich alternativ bei einer starken Erkältung per Videosprechstunde über die Doktor.De-App behandeln lassen", so die Hausärztin.

Wie viele ihrer Kolleg:innen über 60 würde sich Dr. Wellnitz selbst nicht als technikaffin bezeichnen. Neben einer vollen ärztlichen Tätigkeit, bei der man sich eigentlich auf das Medizinische konzentrieren möchte, fehlt es oft auch schlichtweg an der Zeit, sich selbst fit zu machen für das Thema Praxisdigitalisierung. "Es ist nicht unser Beruf, sich mit den technischen Details der Digitalisierung auszukennen. Ich finde, die Regierung fordert viel zu viel von uns Ärzt:innen, wenn wir uns mit KIM und Telematikinfrastruktur auseinandersetzen müssen. Und wen haben wir in der hausärztlichen Praxis denn schon, der uns helfen könnte? Wir habenunsere MFA und ich persönlich habe großes Glück, eine tolle MFA zu haben, die solche Sachen versteht und die sich da auch reinhängt. Viele Kolleg:innen sind mit ihren MFA "alt geworden" − wer soll das in der Praxis in einem solchen Fall übernehmen? Da gibt´s vielleicht irgendwann eine Online-Schulung bei der KV, aber danach steht man dann genauso dumm da wie vorher, weil man es so nicht wirklich umsetzen kann. Eine Kollegin von mir z. B. hat weinend aufgehört, als die Telematik eingeführt wurde, weil sie sagte: Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, ich habe schlaflose Nächte. Ich hör jetzt auf."

Natürlich gibt es heute auch immer noch Umstellungsprozesse in der Praxis und es muss technisch auch heute noch immer mal wieder etwas angepasst werden. "Das ist ganz normal bei so einer Praxisabgabe", findet die Ärztin. "Aber ich merke schon jetzt eine wichtige emotionale und mentale Entlastung. Wenn heute etwas technisch nicht rundläuft, kann ich jemanden anrufen, demjenigen das Thema übergeben und mich selbst auf meine Patient:innen konzentrieren." Schritt für Schritt wird es jetzt weitergehen: Sie bekommt noch einen ärztlichen Kollegen dazu, der ebenfalls bei Doktor.De angestellt sein wird. Dieser wird halb-halb arbeiten: zwei Praxistage vor Ort und zwei Tage digitale Sprechstunde. "So kann er seine Patienten aus der digitalen Sprechstunde bei Bedarf auch in die Praxis bestellen", erklärt Wellnitz. Einen Partner zu wählen, der über einen Fokus auf dem digitalen Bereich verfügt, kann einer Praxis helfen, sich für die Zukunft besser aufzustellen. Das war aber in diesem Falle nicht der erste Aspekt. Erste Priorität war für Dr. Wellnitz vielmehr eine sinnvolle Praxisabgabe an eine zuverlässige Nachfolge. Dabei war es ihr zum Beispiel wichtig, "dass meine Praxis nicht zu einem seelenlosen Massen-MVZ wird. Da würde ich mich auch selbst als Ärzt:in nicht wohlfühlen. Man hat diese Praxis also nicht gekauft, wie es andere große Unternehmen tun würden, um irgendwo noch einen umsatzstarken Standort zu haben. Es geht darum, die Digitalisierung in den Arztpraxen voranzutreiben, die Ärzt:innen wieder Ärzt:innen sein zu lassen und so die medizinische Versorgung langfristig sicherzustellen. Das ist ein ganz anderes Zusammenarbeiten. So habe ich nicht das Gefühl, dass mir im technischen Bereich etwas übergestülpt wird. Meine Praxiserfahrungen und Wünsche werden ernst genommen. Ich denke, das spielt für die einzelne Ärzt:in eine ganz wichtige Rolle, wenn es um die Praxisfortführung geht. Ich bin also zwar nicht darauf aus gewesen, meinen "Nachfolger" wegen der Digitalisierung zu wählen, aber es ist natürlich ein Punkt, der sich im Nachhinein als sehr wertvoll erwiesen hat." In der Praxis gibt es viele chronisch Kranke, die ihren Termin direkt bekommen. "Aktuell werden alle Termine telefonisch vereinbart, aber wir sind gerade dabei, das umzustellen: auf eine zusätzliche elektronische Terminvergabe. Das wird auch zu einer Entlastung der Mitarbeiter:innen führen. Bei Rezepten funktioniert das schon länger sehr gut. Dass jemand auf ein Rezept eine Stunde in der Praxis warten muss, das gibt es schon seit Jahren nicht mehr bei uns. Wir haben dafür ein Rezepttelefon, wo Patient:innen ihre Rezepte zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbestellen können." Für die kommenden Veränderungen kann man Dr. Wellnitz nur genau diesen Mix aus Realismus und Veränderungsbereitschaft wünschen, der sie auf diesen nicht typischen, aber sichtbar erfolgreichen Weg geführt hat. Und noch viel Freude mit ihrem Team und den Patient:innen!

Kolleg:innen, die sich mit Dr. Kathrin Wellnitz über ihre Erfahrungen austauschen möchten, erreichen Sie unter: praxis.nossenerstrasse@doktor.de



Experte

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Dr. Kathrin Welnitz

Allgemeinmedizinerin
MVZ Lichtenberg



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (7) Seite 18-20