Wer Pilsen hört, denkt wahrscheinlich zuerst an Bier. Natürlich ist die Brauerei der westböhmischen Vier-Flüsse-Stadt weltberühmt, doch eine Städtereise nach Pilsen lohnt sich nicht nur ihretwegen. In der Stadt ist ein Zentrum des tschechischen Puppenspiels und Marionettentheaters, das inzwischen zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO gehört.

Als Jiří Fiala ein Kind war, las er eine Geschichte, die ihn nicht mehr losließ. Sie handelte von einem Jungen, der nach der Vorstellung im Puppentheater blieb – und in der Nacht abenteuerliche Begegnungen mit den lebendig gewordenen Figuren erlebte. Diese fantasievolle Erzählung steigerte seine Begeisterung für das Marionettentheater, das ihn schon von klein an fasziniert hatte.

"Als ich zehn Jahre alt war, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte beim örtlichen Theater, ob ich mitspielen könnte", erinnert sich Fiala. Seitdem ist der heute über 70-Jährige ein begeisterter Puppenspieler und mittlerweile auch Vorsitzender des Theaters Boudě. An die 200 verschiedene Marionetten hängen dort im Lager – darunter Schwejks, Teufel, verschiedene "Kaspareks" und "Jans" oder "Honzas", Clowns, Prinzessinnen, Hexen und viele andere Gestalten.

Weltkulturerbe Puppentheater

Seit dem Jahr 2016 gehört das tschechische Marionetten- und Puppentheater zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO. Dass das Puppentheater in Tschechien auch im Zeitalter von Smartphones und 3D-Spielen noch so lebendig ist, liegt maßgeblich an der Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre. Damals, so erinnert sich Jiří Koptik, den wir im Pilsener Marionetten- und Puppenmuseum treffen, wurde an der Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste in Prag das Fach Marionettentheater ausgebaut – und in verschiedenen Städten in der damaligen Tschechoslowakei entstanden professionelle Puppentheater. Koptik war jahrelang Leiter des Pilsener Alfa-Theaters und hat die Gründung des Marionetten- und Puppenmuseums am Pilsener Hauptplatz angeregt. Das 2009 eröffnete Museum zeigt die Tradition des Puppenspiels, von den fahrenden Spielleuten und wandernden Puppenspielern, den sogenannten Horaky, über Animationsfilme bis hin zu modernen Theaterproduktionen – und ist zugleich ein Hands-on-Museum, in dem sich die Besucher selbst als Marionettenspieler versuchen können.

Zwei Stars des Puppenmuseums sind Spejbl und Hurvinek, ein legendäres Vater-Sohn-Gespann, das in den 1920er-Jahren in Pilsen von Josef Skupa kreiert wurde. Dieser Pilsener ist eine Art Gründervater des tschechischen Puppentheaters. Seine beiden Figuren Spejbl und Hurvinek waren aber auch die Helden zahlreicher tschechischer und ostdeutscher Kinderprogramme. Das von Skupa gegründete Spejbl-und-Hurvinek-Theater, das von 1930 bis 1943 in Pilsen ansässig war, ist heute zwar in Prag beheimatet, doch Josef Skupa, dem Schöpfer der beiden Figuren, wird im ostböhmischen Pilsen alle zwei Jahre ein großes Theaterfestival gewidmet. Während des Festivals haben ausländische Besucher den Vorteil, dass fast alle Aufführungen ins Englische übersetzt werden.

Ein echtes Kulturreiseziel

Neben dem Besuch des Puppenmuseums und des Theaters Alfa lohnt sich eine Reise nach Pilsen noch aus vielen anderen Gründen. Die einst graue Industriestadt, die lange Zeit von den nahe gelegenen Skoda-Werken geprägt war, hat sich in den letzten Jahren herausgeputzt. Am Hauptplatz, der von der gotischen St.-Bartholomäus-Kathedrale mit ihrem über 100 Meter hohen Kirchturm dominiert wird, stehen zahlreiche prächtige und gut restaurierte Bürgerhäuser – sowie drei Brunnen mit vergoldeten Wasserspeiern. Die Wasserspeier sollen an Symbole aus dem Pilsener Stadtwappen erinnern. Doch um tatsächlich einen Engel, eine Windhündin und ein Kamel zu erkennen, dazu braucht man viel Fantasie.

Ein Stück südwestlich des Hauptplatzes stoßen wir auf das größte Theater der Stadt, das prachtvolle Josef-Kajetán-Tyl-Theater, das in der Blütezeit der Stadt zwischen 1899 und 1902 erbaut wurde. Ganz in der Nähe erstrahlt die zweitgrößte Synagoge Europas in neuem Glanz. Sie wurde in den vergangenen Jahren aufwendig restauriert. Voll ist sie allerdings nur, wenn sie als Konzertsaal genutzt wird. Denn die jüdische Gemeinde der Stadt, die vor der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg mehr als 2.500 jüdische Bürger zählte, wurde nahezu ausgelöscht – nur wenige waren nach dem Krieg übrig geblieben oder kehrten zurück. Beeindruckend und erschreckend ist das Schicksal der Familie Jan und Jana Brummel, deren Wohnung in der Husova-Straße Nr. 58 vom berühmten Innenarchitekten Adolf Loos gestaltet wurde und heute nach Voranmeldung besichtigt werden kann. Jan und Jana Brummel wurden 1939 in die Konzen-
trationslager Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Sie überlebten die Lager und konnten nach 1945 wieder im selben Haus wohnen – allerdings nur im Dienstbotenzimmer ihres ehemaligen Apartments. Hedvika Liebstein, die bis zum Einmarsch der Deutschen ebenfalls in der Wohnung residierte, überlebte die Qualen der Lager nicht. Seit 2015 ist das renovierte Haus mit seinem sehenswerten Interieur als eine von mehreren Pilsener Loos-Wohnungen für die Öffentlichkeit zugänglich.

Das bezaubernde Puppenmuseum, die sehenswerten Loos-Apartments, das prächtige Josef-Kajetán-Tyl-Theater, das kreative Alfa-Theater, die neu restaurierte Synagoge – all das sind gute Gründe, Pilsen für ein paar Tage zu besuchen oder auf der nächsten Prag-Reise zumindest einen längeren Stopp einzulegen.

Denn die Stadt ist als Kulturreiseziel ein echter Geheimtipp und hat weit mehr zu bieten als ein Biermuseum, unterirdische Gänge und die legendäre Brauerei. Diese gehört inzwischen längst einem japanischen Konzern, lockt aber Wochenende für Wochenende zahlreiche Junggesellenabschiede zu feuchtfröhlichen Brauereibesichtigungen.

Reise-Informationen
  • Anreise: Auf der A6 bis zur Grenze Waidhaus und von dort auf der E50 weiter nach Pilsen Anreise mit der Bahn über Schwandorf oder über Cheb. Pilsen ist zudem auch an das Flixbus-Netz angeschlossen.
  • Sehenswürdigkeiten: Marionettenmuseum: Muzeum Loutek, Námeˇstí republiky 137/23, 30100 Pilsen, www.muzeumloutek.cz; Alfa-Marionetten-Theater, Rokycanská 7, 31200 Pilsen, www.divadloalfa.cz; Loos-Apartments (https://www.adolfloosplzen.cz/de/besichtigungsstrecken/)
  • Übernachten: Courtyard by Marriott Pilsen, Sady 5. kvetna 57, 30100 Pilsen, www.countryardpilsen.cz.
  • Einkehren: Na Parkanu 4, Veleslavínova 59, 30100 Pilsen, www.naparkanu.com; U Salzmannu, Prazska 90/8, 30100 Pilsen, www.usalzmannu.com; Plzenka Riegrova 7, 30100 Pilsen, https://www.plzenkaplzen.cz/.
  • Auskunft: Tourist Information, E-Mail: info@visitpilsen.eu, www.visitpilsen.eu. Tschechische Zentrale für Tourismus – CzechTourism, Wilhelmstraße 44, 10117 Berlin, E-Mail: berlin@czechtourism.com, https://www.visitczechia.com/de-DE/.



Autor
Rainer Heubeck

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (8) Seite 50-52